- Berlin
- Schwangerschaftsabbruch und 219a
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Der Paragraf 219a fällt, trotzdem müssen ungewollt Schwangere bis zum Abbruch Stress und Einschränkungen über sich ergehen lassen
Wie eine Kindersicherung, so beschreibt Christiane Tennhardt die bisherige Umsetzung des Paragrafen 219a. Die Berliner Gynäkologin ist Vorständin von Doctors for Choice Germany, einer Vereinigung von Mediziner*innen, die sich für den freien Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen einsetzt. Und sie freut sich, dass der unliebsame Paragraf an diesem Freitag per Bundestagsbeschluss endlich abgeschafft worden ist. Wegen des »Werbeverbots« konnte Tennhardt bislang nicht all ihre Leistungen auflisten. »Ich darf nicht sagen, ich mache Schwangerschaftsabbrüche, sondern ich leite an die Seite der Senatsgesundheitsverwaltung weiter. Das ist natürlich kein Zustand, dass ich auf meiner eigenen Website auf eine fremde Website verweisen muss.«
Am Montag, wenige Tage vor der Abstimmung im Bundestag zur ersatzlosen Streichung von Paragraf 219a, berichten Gynäkologinnen und Beraterinnen aus Berlin auf einer digitalen Veranstaltung des Landesverbandes Pro Familia von ihrem Arbeitsalltag. Die Freude über die anstehende Gesetzesstreichung ist gedämpft, zu groß sind die Hindernisse, die den Weg von einer ungewollten Schwangerschaft bis zur Beendigung derselben weiterhin erschweren. Die Teilnehmerinnen sind sich einig: Eigentlich gehören die Paragrafen 219 und 218 komplett abgeschafft. Schwangerschaftsabbrüche sollten nicht im Strafgesetz verankert und ohne Beratungspflicht und erzwungene Wartezeit legal sein. Sonst wird ein Schwangerschaftsabbruch zu einem Hürdenlauf.
Ever hat diesen Hürdenlauf erlebt. Ever ist 26 Jahre alt, lebt in Berlin, näht, tätowiert, arbeitet als Übersetzer*in und benutzt als nichtbinäre Person keine Pronomen. Vor einem Jahr bemerkt Ever eine ungewollte Schwangerschaft in der dritten Woche. »Ich hatte mir lustigerweise gerade kurz vorher eine Zyklus-App runtergeladen, und die hat mir direkt gesagt, dass ich überfällig bin«, berichtet Ever »nd«. Die Nachricht kommt überraschend, eine Gynäkologin hatte Ever wegen Endometriose Unfruchtbarkeit attestiert. »Zuerst dachte ich kurz, krass, vielleicht wäre das jetzt meine einzige Chance auf ein Kind. Aber dann habe ich mich daran erinnert, dass ich gar keine Kinder will«, sagt Ever und lacht.
Deshalb macht Ever einen Termin bei Pro Familia, »um mir den bescheuerten Schein abzuholen, der beweist, dass ich geistig zu der Entscheidung fähig bin und meine Entscheidung begründet ist«, regt sich Ever auf. Die Person am Telefon sei aber verständnisvoll gewesen, das Gespräch nur kurz.
Darauf folgt ein Termin bei einer Gynäkologin und eine Überweisung zum Medizinischen Versorgungszentrum. Weil die Schwangerschaft noch so jung ist und eine Eileiterschwangerschaft nicht ausgeschlossen werden kann, muss Ever noch knapp zwei Wochen warten. »Das war sehr seltsam, weil ich die ganze Zeit wusste, dass da etwas in mir wächst.« Dann geht es sehr schnell: ein weiterer Termin – und dann der operative Abbruch gleich am nächsten Tag. Die OP ist Ever lieber, weil es sich sicherer anfühlt. »Danach war ich so unglaublich erleichtert, wie ich das letzte Mal nach dem Abi erleichtert war.«
Auch wenn der Abbruch alles in allem eine angenehme Erfahrung war, kritisiert Ever die verpflichtende Beratung und die Wartezeit. »Ich glaube, dass das viele Menschen als Schikane empfinden.« Ever selbst, mit Blick auf den Abbruch sehr sicher, sind die Termine nur lästig, aber jemand anderem könne der »Staffellauf« von einer Stelle zur nächsten die Entscheidung erschweren. Abtreibung sei ohnehin so stark stigmatisiert. »Wenn man sagt: ›Ich bin schwanger‹, fragt kaum ein Mensch: ›Oh, wie fühlst du dich damit?‹ Alle sagen: ›Herzlichen Glückwunsch!‹ Aber vielleicht möchte die Person die Glückwünsche nicht.« Auch deshalb geht Ever sehr offen mit der Abtreibung um: Ever will anderen ungewollt Schwangeren etwas von der Scham nehmen.
Das Stigma ist überall präsent. Was den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch und insbesondere zur bevorzugten Methode betrifft, schneidet Berlin im bundesdeutschen Vergleich jedoch gut ab. Das zeigt sich beispielsweise an dem Verhältnis von operativen und medikamentösen Eingriffen. Jana Maeffert, Berliner Gynäkologin und Mitbegründerin eines Pilotprojekts für telemedizinische medikamentöse Schwangerschaftsabbrüche, attestiert auf der Veranstaltung am Montag Deutschland eine Unterversorgung, die sie in dem Fall an den Zahlen zur gewählten Methode festmacht. In Ländern wie Frankreich wählen 60 Prozent aller ungewollt Schwangeren die medikamentöse Methode: Im Vergleich zu einem operativen Eingriff ist sie schneller, früher durchführbar und billiger. In Deutschland liegt die Quote bei 30 Prozent.
Die Gründe dafür sind vielfältig. Maeffert vermutet, dass Betroffene beispielsweise nicht die Frist einhalten können, bis zu der ein Abbruch mithilfe von Medikamenten erlaubt ist, weil es in ihrem Umfeld nicht genug verfügbare Ärzt*innen gibt – die Anzahl an Kliniken und Praxen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, ist seit 2003 um 47 Prozent zurückgegangen, die Anzahl an abtreibenden Menschen in Relation zu allen fertilen Personen mit Uterus blieb hingegen fast gleich. In Berlin liegt der Anteil medikamentöser Abbrüche deutlich höher als im Bundesdurchschnitt, nämlich bei 50 Prozent. Und tatsächlich ist der Bedarf an Praxen und Kliniken – insgesamt sind es 150 in der Hauptstadt – nach Einschätzung Maefferts und ihrer Kolleginnen vergleichsweise gut abgedeckt.
Auch Beratungsstellen gibt es hier zur Genüge, dem Senat zufolge sind es berlinweit 53. Doch nicht bei allen können ungewollt Schwangere eine ergebnisoffene Beratung erwarten. Bei manchen Stellen sei der fundamentalistische »Lebensschutz«-Hintergrund klar erkennbar, sagt Sibylle Schreiber, Landesgeschäftsführerin von Pro Familia Berlin, zu »nd«. Der Verein Pro Femina beispielsweise hätte bei der Eröffnung einer Beratungsstelle in Berlin vor drei Jahren nicht mit seiner Anti-Abtreibungs-Haltung hinterm Berg gehalten und werde deswegen nicht mehr als Anlaufstelle auf der Senatswebsite aufgeführt.
Bei anderen Institutionen sei die Einordnung schon schwieriger, sagt Schreiber. Sie erwähnt einen Verein in Spandau, der sich in seiner Satzung auf christliche Werte beruft. Konfessionelle Beratungsangebote gibt es auch von Diakonie und Caritas, bei diesem Verein sitzt der Vorstand jedoch im Fürstentum Liechtenstein. »Es ist in der Szene bekannt, dass sich das Fürstentum ganz offen gegen Abtreibung positioniert«, so Schreiber. Die Finanzierung und die tatsächliche Gesinnung des Vereins seien nicht so einfach nachzuvollziehen, »und die haben natürlich ein Interesse daran, das zu verschleiern«. Denn auch solche Institutionen würden versuchen, an öffentliche Gelder zu kommen. Solange es keine rechtliche Handhabe gebe, fragwürdige Stellen aus der Förderung auszuschließen, müssten zumindest die Beratungsbedingungen transparent gemacht werden, findet Schreiber. Dazu gehört die konfessionelle Prägung und die Tatsache, dass weder Spandau noch katholische Träger wie die Caritas Beratungsscheine ausstellen. »Eine Schwangere muss wissen, dass sie dafür noch zu einer anderen Stelle muss.« Weil die Gesundheitsverwaltung nicht jede Stelle unter die Lupe nimmt, wendet sich Pro Familia eigenständig mit Bedenken an die Politik, erzählt Schreiber.
Andere christlich-fundamentalistische Abtreibungsgegner*innen finden sich nicht in, sondern vor Beratungsstellen. Mit sogenannten Gehsteig-Belagerungen versuchen sie, mit Bildern von Föten und blutigen Abbrüchen die Schwangeren von ihrer Entscheidung abzubringen. Und das seit Kurzem auch in Berlin. Konstanze Haase ist Geschäftsführerin des Familienplanungszentrums Balance, das Schwangerschaftskonfliktberatung sowie Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Im Anschluss an die Pro-Familia-Runde am Montag erzählt Haase ausführlicher von drei Belagerungen im vergangenen Jahr.
Das erste Mal hätten bei einer angemeldeten Kundgebung fünf Menschen, darunter eine Nonne und eine Frau mit Babybild auf dem Bauch, vor dem Eingang Flyer verteilt und die Patient*innen angesprochen: »Du möchtest über deine Abtreibung reden? Wir begleiten dich.« Die zwei weiteren Kundgebungen seien unangemeldet und kleiner gewesen, wieder wurden Flyer von einem Verein namens Donum Domini aus dem niedersächsischen Bad Laer verteilt. Der Vereinssitz wie auch die geringe Beteiligung lassen Haase vermuten, dass die Protestierenden nicht aus Berlin stammten.
Trotzdem war die Belagerung ein Schock: »Vorher gab es das in Berlin nicht, es war ein rein westdeutsches Ding«, sagt Haase zu »nd«. »Wir haben immer gedacht, wir sind so eine liberale Stadt, da kann das doch nicht passieren.« Jetzt mache sich die Klinik Gedanken über Schutzkonzepte. Polizei neben dem Eingang kommt für Haase nicht infrage. »Dann kriegen die Betroffenen ja noch mehr das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun.« Die Angstmacher*innen zu ignorieren, sei jedoch auch keine Option. Haase hofft auf eine rechtliche Regelung, die den eigentlich öffentlichen Raum rund um Orte der Schwangerschaftskonfliktberatung unter besonderen Schutz stellt. Bislang könne die Belästigung mit Hinblick auf die Versammlungsfreiheit schwer verboten werden.
Schreiber, Haase und die anderen Teilnehmerinnen der Pro-Familia-Veranstaltung sind sich einig, dass hinter den Versuchen, Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern oder zumindest zu regulieren, ein misogynes Frauenbild steckt. Eine so wichtige Entscheidung durch das Informationsverbot, aber eben auch durch die weiter bestehende Beratungspflicht und erzwungene Wartezeit, durch eine De-jure-Kriminalisierung oder gar durch Gehsteig-Belästigungen beeinflussen zu wollen, spreche Schwangeren die Fähigkeit zur Selbstbestimmung ab. »Das ist ja keine Entscheidung, die Frauen morgens beim Kaffee fällen«, so Haase. Kollegin Christiane Tennhardt sagt: »Wenn sich eine Frau entscheidet, eine Schwangerschaft abzubrechen, wird sie Mittel und Wege finden. Die Hürden halten sie nicht davon ab, sie erhöhen nur den Stress. Das ist eine frauenfeindliche Haltung.«
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