Die Welt war plötzlich ruhig

Das Schneiden einer Apfelsine kann etwas Schönes sein: Ein sehr schlechtes und ein sehr gutes Buch über den wundersamen 1. FC Nürnberg und Franken

  • Jürgen Roth
  • Lesedauer: 8 Min.
Max Morlock, die Nürnberger Legende, gestern und immerdar, in seiner Lotto-Annahmestelle
Max Morlock, die Nürnberger Legende, gestern und immerdar, in seiner Lotto-Annahmestelle

Sofern ein Buch eine Frechheit sein kann: Harald Kaisers Episodensammlung »Der Club ist ein Depp. Aber nicht immer! Die unglaublichsten Geschichten rund um den 1. FC Nürnberg« ist eine. Der Markt für Fußballbücher gleicht ja seit vielen Jahren in weiten Teilen einer Deponie für gedankliches Gerümpel und Sprachabfall. Aber was muss schiefgegangen sein, damit der seriöse, von mir geschätzte Verlag Die Werkstatt – in dem zum Beispiel Dietrich Schulze-Marmeling publiziert und in dem etwa die grandiose, maßstabsetzende, von akribischer Recherche zeugende und im historischen Präsens beinahe wie ein Hörspiel gebaute kultur- und politikgeschichtliche Montage »71/72. Die Saison der Träumer« von Bernd-M. Beyer erschienen ist – einen derartigen Mumpitz, ein derart lustloses Gefasel zum Druck befördert?

Weil der Club, dieser einst ruhmreiche und spätestens seit den 90er Jahren vollends unbegreifliche Chaos- und Gaunerverein (die Zeit unter Trainer Hans Meyer nehmen wir mal zum Teil aus), genug Fußballsüchtige auf seiner Seite weiß, die einfach jeden Kappes kaufen, um ihn auf den Hausaltar zu legen? Selbst wenn in Kaisers hingepatztem Bändchen rein gar nichts steht, was nicht jeder Cluberer schon tausendmal gehört und ventiliert hat?

Gut (oder schlecht): Harald Kaiser war 36 Jahre lang Redakteur beim »Kicker«. Das erklärt sein tief gestörtes Verhältnis zur deutschen Sprache, mit der sich wunderbar spielen und jonglieren ließe. Sein Sound: fad wie entrahmte Milch, matt, platt, phrasensatt (»So sehen Sieger aus«, »Ein Schelm, wer Böses dabei denkt«, sie »drängten mit aller Macht auf den Ausgleich«), 1:0-Berichterstattung auf Krücken. Keinen einzigen Moment der Nürnberger Fußballgeschichte, in der sich mitunter durchaus die Poesie des Lebens offenbarte, vermag er angemessen einzufangen. Was macht Kaiser aus dem Helmer-Phantomtor 1994, das den nächsten Abstieg des FCN quasi besiegelte? Was destilliert er aus der antikischen Relegationspartie in Ingolstadt 2020? Nichts. 1999, der schwarze Samstag, das ungeheuerlichste Sportereignis seit Menschengedenken? Kommt in einem, vermutlich vom Verlag hineingeflickten Halbsatz vor.

Harald Kaiser hat keine Beziehung zum Fußball, er hat keine Beziehung zum Ausdruck. Er wäre in einer Steuerbehörde besser aufgehoben. Da könnte er in der Kantine seine Datenkolonnen zu den Negativrekorden und Kuriositäten herunterleiern, für die der 1. Fußball-Club Nürnberg verantwortlich zeichnet. Von den zahlreichen Geschichtsklitterungen in diesem imposant nutzlosen Œuvre will ich gar nicht reden. Dass Harald Kaiser jedoch nicht einmal den Urheber des seinem Spitzenbalg den Titel spendierenden Satzes »Der Club ist ein Depp« erwähnt, grenzt an eine Sauerei.

Klaus Schamberger ist in Nürnberg und in Franken eine Institution. Der »Spezi«, wie man ihn hier nennt, war nach ersten spektakulären Einsätzen als freier Sportreporter der »Nürnberger Nachrichten« – er berichtete über »erschütternde Faustballspiele« oder ein säkulares Geschehen namens »herbstliches Abrudern« – jahrzehntelang Redakteur (und späterhin Chef) der »Abendzeitung Nürnberg«, die Ende September 2012 eingestellt wurde. Große regionale Bekanntheit erlangte er etwa als Gerichtsreporter. Schamberger ist ein glänzender Schriftsteller und ein brillanter Mundartdichter, nein, mehr: Er ist ein Poet sui generis, ein vom Eros der Formulierung durchdrungener Äquilibrist, ein wider alle Regeln in der Kulturwüste Franken gediehenes Genie.

Seine geradezu sträfliche Bescheidenheit, die mich oft an die Zurückhaltung meines verstorbenen Freundes F. W. Bernstein erinnert, verhindert wahrscheinlich, dass er jenseits dieses merkwürdigen Landstriches, den man zugleich hassen und lieben kann, jene Beachtung erfährt, die ihm gebührte. Hockte ich in der Jury, die den Büchner-Preis verleiht, wäre das Votum klar. Aber wir sollen halt pausenlos irgendwelche Moras und Lewitscharoffs und Goetzen zur Kenntnis nehmen, statt ein so überwältigend schönes, stilles, zartes und wahrhaftiges Buch wie Klaus Schambergers Autobiografie »Wie ich einmal nicht der Morlock geworden bin« zu lesen.

Ich will, ich kann im Grunde keine redaktionellen Ansprüchen Genüge leistende Rezension schreiben. Ich bin in dieses Buch wie in einen verschwiegenen Waldsee hineingesprungen, kopfüber. Die Welt war plötzlich ruhig. Unter Wasser begann ich endlich zu atmen, langsam und tief, das Zwerchfell entspannte sich. Hie und da durchschnitt ein sanfter Lichtbalken das dunkle, warme Drumherum. Kleine Fische umtänzelten mich, und einer von ihnen zwinkerte mir zu, es war der Spezi. (Mit dem ich, notabene, per Sie bin. Ich habe ihn bislang nur einmal getroffen, im Mai 2018, auf dem Nürnberger Hauptmarkt, ich hatte ihn um ein Interview gebeten.) Als ich wieder aufgetaucht war, weitete sich mir die Brust aufs Neue. Bussarde schwebten am frisch getünchten Himmel, das Gefühl von Freude und vollkommenem Einverstandensein durchströmte mich. So hatte ich es das letzte Mal bei der Lektüre von Henscheid, Frank Schulz, Handke und Andreas Maier empfunden.

Ich möchte bloß ein paar Sätze zitieren, aus einem »mit dem vergangenheitsfähigen Herzen« geschöpften literarischen Zeugnis, aus dem man etwas über ein gelungenes und ebenso blödsinniges Leben erfährt (jedes einzelne Leben ist unbegreiflich anmutend und irrwitzig in einem). Bereits der Einstieg, geprägt von jenem fränkischen Understatement, das zu verstehen sogar jedem intimen Kenner des Menschenschlags für immer verwehrt bleiben wird: »Schon wahr, es gibt fest vereinbarte Welträtsel, sieben im ganzen. Einerseits. Andererseits hat aber jeder seine eigenen Welträtsel, manchmal so viele, daß sie alle miteinander gar nicht ins Hirn hineinpassen. Da ist an eine Beantwortung der Rätselfragen schon gar nicht zu denken. (…) Weit vor der Sache 1954 gegen Ungarn in Bern und dem sogenannten Anschlußtreffer zum 2:1 war jener Max, Nachname Morlock, im Mai 1925 in Gleißhammer auf die wie erwähnt enorm rätselhafte Welt gekommen, mein Gott. Da hat der Depp von Häberlein, unser kirchenamtlicher Seelenwart und Jungscharführer, mit seinem frommen Geklampf von der drohenden Hölle und dem kleinen Katechismus und den zehn Geboten und Todsünde und Luther Zeuch und Woar drohen können, wie er gewollt hat – mein Gott war nicht der Opa mit dem weißen Vollbart hinter einigen Wolken auf dem Häberlein seinen gütigst verschenkten Fleißbildlein, mein Halb- und manchmal sogar Ganzgott war der Max Morlock und mein Himmel der Sportpark Zabo.«

Der Zabo ist der Nürnberger Stadtteil Zerzabelshof, die Geburtsstätte des 1. FCN, und Nürnberg war, ungeachtet solcher Menschen wie des herzensguten Morlock Max, der bis zu seinem Tod einen Lotto-Toto-Laden in der Südstadt führte, seit dem ausgehenden Mittelalter ein Zentrum des deutschen Antisemitismus. Dieser Hintergrund – in Mittelfranken erreichte die NSDAP übrigens schon in den 20er Jahren Rekordwerte, Hitler pries die Scheißgegend, in der ich beheimatet bin, als »Brücke nach Berlin« – schwingt in Schambergers »Memoir einer Kindheit« stets mit: »Nürnberg, früher ›des deutschen Reiches Schatzkästlein‹, noch früher unter tat- und maulkräftiger Mithilfe des berühmten Alleswarenkrämers, Eisenbahngroßaktionärs und Antisemiten Johannes Scharrer (nach dem wir in traditioneller Vergeßlichkeitsbewältigung zwei Schulen und eine Straße benannt haben), ein judenfeindliches Terrain sondergleichen. Infolgedessen später fast in direkter Linie eines der Lieblingsstädtlein der Herren Hitler, Streicher, Göring, Speer und Konsorten, noch später zu ungefähr drei Vierteln der Altstadt eingeäschert, eingeebnet, quasi Volltreffer in Häuser, Kirchen, schöne Patrizierstätten und ins schlechte Gewissen.«

Und gleichwohl ist man dort zu Hause, an Straßenecken, Hecken, auf Bolzplätzen und Blumenwiesen, an den Orten der Erziehung der Gefühle durch die dir nahen Menschen; und das Proust’sche Motiv der errettenden Besinnung aufs Gewordensein in einer je einzigartigen Herkunft kann niemand unterdrücken, der ernstlich mit sich zurate geht: »Kann man sich Erinnerungen auch in der Nase aufbewahren? Ich schon. Weil: Ich spür’ ihn heute noch, den immer intensiver werdenden Geruch meiner allerallerallerersten Apfelsine, wie sie der Onkel Seppl mit seinem Taschenmesser bedächtig bearbeitet hat: einige senkrechte Schnitte in die Schale, die so entstandenen hellgelben Schalenklappen abgezogen, die weißlichen Orangenhautreste fein säuberlich abgeschabt, und dann der erste Biß in die schönste Frucht, die man sich denken kann, wenn überhaupt.« (Ich mußte augenblicklich an meinen geliebten melancholischen Großvater denken, wie er mit dem Taschenmesser ein Stück Wurst in Scheiben schnitt.)

Ich könnte die ganze Zeitung mit Schambergers adorationswürdigen Sätzen füllen, breche indes, einem Rat der Erkenntnistheorie folgend, dogmatisch ab. Ach so. Die geflügelte Zeitungsschlagzeile »Der Club ist ein Depp« stammt vom Spezi. Die hat er nach dem Abstieg des FCN in die Regionalliga (1996) aus dem Ärmel gewürfelt. »Die hätt’ ich mir damals am Patentschutzamt in München schriftlich fixier’n lassen müssen, dann, dann …«, sagte Klaus Schamberger vor vier Jahren zu mir, zog an der Zigarette und fuhr nicht fort.

Dann hätte immerhin Harald Kaisers Lumperei unter einem anderen Titel auf die Welt kommen müssen.

Harald Kaiser: Der Club ist ein Depp. Aber nicht immer! Die unglaublichsten Geschichten rund um den 1. FC Nürnberg. Die Werkstatt, 160 S., br., 18 €.

Klaus Schamberger: Wie ich einmal nicht der Morlock geworden bin. Memoir einer Kindheit. Ars Vivendi, 200 S., geb. 22 €.

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