Ein Mindestlohn für Europa?

Linke-Politikerin Özlem Alev Demirel über die EU-Einigung zu Mindestlohnregeln

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 4 Min.

EU-Parlament und Rat sind sich einig: Der EU-Mindestlohn soll kommen. Werden bald alle Europäer*innen mindestens 12 Euro pro Stunde verdienen?

Nein, und das wäre auch Quatsch. Bei der Direktive handelt es sich um einen Rahmen, der drei wichtige Punkte festlegt. Erstens: eine Untergrenze. Da, wo es einen gesetzlichen Mindestlohn gibt, muss dieser mindestens vor Armut schützen. Zweitens sagt die Direktive, dass EU-Mitgliedstaaten eine höhere Tarifbindung, 80 Prozent erreichen sollen. Drittens sollen auch Tarifverträge und gute Mindestlöhne bei der öffentlichen Vergabe beachtet werden. Aktuell sind rund 25 Millionen Menschen trotz Arbeit arm. Mit der Troika-Politik und den neoliberalen Vorgaben der EU wurden Gewerkschaften geschwächt, Tarifverträge zerschlagen. Damit wollen wir brechen.

Interview

Özlem Alev Demirel ist für die Linke Mitglied des Europäischen Parlaments und war an den Verhandlungen zum EU-Mindestlohn beteiligt. Fabian Lambeck sprach mit der Politologin über den Weg zum EU-Mindestlohnund was dieser konkret bedeutet.

Wie kommt es überhaupt, dass die EU so eine Direktive erlässt? Bislang war man in Brüssel doch stets bemüht, die Löhne möglichst niedrig zu halten.

Der Unmut in der Bevölkerung gegen die immer weiter auseinanderdriftende Schere zwischen Arm und Reich wächst. In fast allen EU-Mitgliedstaaten liegen die gesetzlichen Mindestlöhne unterhalb der offiziell anerkannten relativen Armutsschwelle. All das hatte ich auch in meinem verabschiedeten Parlamentsbericht über »wachsende Ungleichheiten« festgehalten. Und tatsächlich gibt es fast überall harte Auseinandersetzungen und Gewerkschaftskämpfe für höhere Mindestlöhne. Das heißt, dass es kein Geschenk ist, sondern der Druck der Gewerkschaften, der hier zum Tragen gekommen ist. Natürlich werden auch mit dieser Richtlinie immer noch die Kräfteverhältnisse in den Mitgliedsstaaten darüber entscheiden, ob und wie hoch die (Mindest-)Löhne sind, und doch bedeutet sie eine Verbesserung für Millionen prekär Beschäftigte. Daran können Gewerkschaften anknüpfen und weitergehen.

Es gab im Vorfeld die Befürchtung, die neue Direktive könnte die Tarifbindung gefährden. Gerade in Skandinavien, wo diese Quote sehr hoch ist.

Nein, mit dieser Direktive werden funktionierende Tarifsysteme nicht angegriffen, im Gegenteil. Wir haben auch eine Schutzklausel eingefügt und klar festgehalten, dass es um eine Aufwärtskonvergenz gehen muss und keine Verschlechterungen geben darf. Auch müssen Mitgliedsstaaten, die bisher keine gesetzlichen Mindestlöhne haben, diese auch nicht einführen, aber da wo es sie gibt, müssen sie auch wirklich vor Armut schützen. Das ist auch das Mindeste!

Wie bindend ist die Direktive für Länder mit sehr niedrigen Mindestlöhnen, wie etwa Rumänien oder Bulgarien? Müssen diese die Lohnuntergrenze nun anheben?

Wir sollten bedenken, dass die Mindestlöhne fast nirgendwo in der EU vor Armut schützen. Nur in Frankreich und Portugal liegen die Mindestlöhne bei 60 Prozent des mittleren Durchschnittseinkommens, das ist die offizielle Grenze für Armutsgefährdung. Allerdings sind die Löhne in beiden Ländern insgesamt niedrig, sodass allein dieses Kriterium nicht reicht. Deshalb war es uns zusätzlich auch wichtig festzuhalten, dass gesetzliche Mindestlöhne sich auch an den realen Preisen für elementare Güter und Dienstleistungen orientieren müssen. Dies ist nun auch in den Erwägungsgründen festgehalten. Das ist gerade in Zeiten der galoppierenden Inflation sehr wichtig. Um gute Löhne durchzusetzen, braucht es die organisierte Kraft der Arbeiter*innen, also starke Gewerkschaften. Unser Ansinnen war es, dieses mit dieser Direktive zu unterstreichen und zu stärken. Das ist uns tatsächlich gelungen.

Setzt diese Direktive auch Deutschland unter Druck?

Der Mindestlohn in Deutschland ist mit 9,82 Euro zwar nominell höher als in anderen Mitgliedsstaaten, aber wenn man den in Relation zur Armutsschwelle setzt, liegt er europaweit eher im unteren Drittel. Es geht also nicht nur um eine Zahl, sondern auch um ihr Verhältnis. Deutschland ist tatsächlich ein Niedriglohnland, vor allem auch im Verhältnis zu seiner Produktivität. Mit dem Verweis auf die Konkurrenzfähigkeit im EU-Binnenmarkt hatte die Schröder-Regierung Sozialstandards und auch Gewerkschaften geschwächt.

Ändert die geplante Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro daran etwas?

Die Bundesregierung hat mit dieser Anhebung die Direktive quasi vorweggenommen. Bevor die Inflation so anzog, lag die offizielle Armutsschwelle bei etwas mehr als 12 Euro. Mittlerweile reichen auch die 12 Euro nicht. So wird auch der Kampf für einen höheren Mindestlohn weitergehen, auch in Deutschland. Gute Löhne und gute Arbeitsbedingungen, das wird kein Geschenk werden, sondern mit Gewerkschaften erkämpft. Und bei diesem Kampf stehen wir natürlich an ihrer Seite.

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