Ausnahmezustand in Rojava

Eine türkische Invasion in Syrien scheint unmittelbar bevorzustehen – jedoch zeichnen sich Probleme für Erdoğan ab

  • Christopher Wimmer, Qamischli
  • Lesedauer: 4 Min.

Bewaffnete Streitkräfte stehen an den Hauptverkehrsknotenpunkten der nordsyrischen Stadt Qamischli (kurdisch: Qamişlo), laufend sind Schüsse zu hören. Was nach Krieg klingt, hat in diesem Fall jedoch einen feierlichen Hintergrund. Vom 8. bis 12. Juli feiern Muslime Eid Al-Adha, das Opferfest, das höchste islamische Fest. Daher sind in Qamischli die Sicherheitsvorkehrungen verschärft – bei den Schüssen handelt es sich um Freudenschüsse. Doch schwebt über der kurdisch dominierten Großstadt eine sehr realistische Kriegsgefahr.

Bereits seit Wochen kommt es in Nordsyrien zu Angriffen der Türkei. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte bereits Anfang Juni eine »neue Phase« des Krieges verkündet. Besonders betroffen von diesen Aggressionen ist die »Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien« (AANES), wie das Gebiet offiziell heißt – vielen besser bekannt unter dem Namen Rojava. Genau vor zehn Jahren, am 19. Juli 2012, begann die Revolution in Kobane: Innerhalb des syrischen Bürgerkriegs erklärten große Gebiete in Nord- und Ostsyrien ihre Autonomie und bauten ein System auf, das auf Basisdemokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Ökologie beruht. Die AANES hat demokratische Kommunen und Räte eingerichtet, die das Gebiet seitdem verwalten.

Nach Darstellung des türkischen Staates ist die AANES jedoch lediglich ein Ableger der als terroristisch eingestuften Arbeiterpartei Kurdistans PKK. Die Türkei hat daher seit 2016 in vier Invasionen völkerrechtswidrig mehrere Gebiete Rojavas annektiert. Gegenwärtig kommt es dort täglich zu Raketen- und Drohnenangriffen. Laut der unabhängigen Medienorganisation »Rojava Information Center« mit Sitz in Qamischli war Nord- und Ostsyrien allein in der ersten Hälfte dieses Jahres 47 mal Drohnenangriffen ausgesetzt. Im gesamten Jahr 2021 waren es 89 gewesen. Bei diesen Angriffen wurden mindestens 55 Menschen verletzt und 16 getötet. Die Zahl ist wahrscheinlich höher, da das RIC nur verifizierte Fälle veröffentlicht.

Nun scheint eine neue Invasion unmittelbar bevorzustehen. Bereits in der Nacht zum 7. Juli fuhren türkische Militärkonvois in der Nähe des Grenzübergangs Al-Rai, nördlich von Aleppo, über die Grenze nach Syrien. Nach Angaben lokaler Medien waren die Fahrzeuge mit »schweren Waffen, Panzern und gepanzerten Fahrzeugen« beladen. Ebenso berichten lokale Quellen davon, dass Krankenhäuser in der Türkei geräumt werden, um sie für verwundete Soldaten freizuhalten. Auch Streitkräfte der von der Türkei untersützten Syrischen Nationalen Armee haben sich in der Region um Aleppo gesammelt. All dies sind weitere alarmierende Signale für einen möglichen Beginn einer türkischen Offensive.

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Nun hat der Generalrat der AANES inmitten der türkischen Vorbereitungen den Ausnahmezustand für die gesamte Region erklärt. In der entsprechenden Mitteilung heißt es: »Alle Kommunen, Räte und Institutionen der Selbstverwaltung werden aufgefordert, Notfallpläne zu beschließen, um den aktuellen Herausforderungen und Bedrohungen zu begegnen.« Auch die Streitkräfte der AANES bereiten sich auf einen Krieg vor und haben angekündigt, ihre Gebiete zu verteidigen. Berichten zufolge besuchte am 8. Juli eine US-Delegation die nordsyrischen Städte Kobane und Manbidsch und bekräftigte ihre militärische und logistische Unterstützung für die kurdisch dominierten Streitkräfte. Im Kampf gegen den IS waren die Kurden der Hauptverbündete der USA. Es bleibt abzuwarten, ob es zu einer direkten Konfrontation zwischen den Nato-Mitgliedern Türkei und USA kommt oder ob Washington doch noch grünes Licht für eine Invasion gibt.

Für einen Einmarsch zeichnet sich jedoch ein größeres Problem ab. Die von der Türkei unterstützen Söldnertruppen der Freien Syrischen Armee (FSA) bekämpfen sich gerade in den türkisch besetzten Gebieten um die Städte Afrin und Gire Spi gegenseitig. Dabei geht es sowohl um ideologische Unterschiede der meist dschihadistischen Gruppen als auch um deren Machtkonflikte. Die FSA finanziert sich häufig über Drogenhandel, Entführungen und Erpressungen und terrorisiert die Zivilbevölkerung. Für Erdoğan stellen diese Gruppen jedoch die Hauptmacht einer möglichen Invasion dar, da er Verluste eigener Truppen so gut wie möglich vermeiden will. Nun stellt sich die Frage, wie effektiv eine Invasion in Nordostsyrien durchgeführt werden kann, wenn die Gruppen sich gegenseitig bekämpfen. Für die Menschen in Nordostsyrien bleibt zu hoffen, dass sie Eid Al-Adha weiterhin friedlich feiern können und es in Qamischli bei Freudenschüssen bleibt.

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