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  • Fußball-EM der Frauen

Rauschhafte Zustände

Gastgeber England gelingt bei der EM mit dem 8:0 gegen Mitfavorit Norwegen eine Machtdemonstration

  • Frank Hellmann, Brighton
  • Lesedauer: 5 Min.
Englands Beth Mead (r.) schoss sich gegen Norwegen mit ihren EM-Treffern zwei bis vier an die Spitze der Torschützinnenliste.
Englands Beth Mead (r.) schoss sich gegen Norwegen mit ihren EM-Treffern zwei bis vier an die Spitze der Torschützinnenliste.

Über den Einsatz von Klatschpappen bei einem Fußballturnier ist gewiss zu streiten. Ausgerechnet solche Utensilien, auf denen in roten Großbuchstaben der Aufdruck »Goal« prangte, hat es an einem lauen Sommerabend in Brighton and Hove aber gebraucht, um eine Machtdemonstration der besonderen Art bei der Frauen-EM zu untermalen. Das englische Nationalteam legte vor 28 847 restlos begeisterten Zuschauern im Falmer Stadium beim 8:0-Schützenfest gegen Norwegen einen denkwürdigen Auftritt hin. »Es war ein großer Sieg, vor allem wie wir gespielt haben«, sagte Nationaltrainerin Sarina Wiegman. »Ich hoffe, es geht so weiter. Wir wollen die Leute im Land stolz machen.« Der höchste EM-Sieg aller Zeiten erfüllt diesen Anspruch allemal. Vor fünf Jahren hatten die Engländerinnen die bisherige Bestmarke gegen Schottland (6:0) selbst aufgestellt.

Der EM-Gastgeber trat keine acht Kilometer Luftlinie von der berühmten Seebrücke entfernt jene Euphoriewelle los, die noch den ganzen Juli über die Insel schwappen soll. Wenn die Männer es schon nicht hinbekommen, bei einer EM mit Finale in Wembley zu reüssieren, dann wohl doch diesen Sommer die Frauen. Diese Mission orchestriert eine Fußballlehrerin, die weiß, wie es geht. Die Niederländerin Wiegmann führte bei der letzten EM 2017 noch ihre Heimatauswahl mit einer bemerkenswerten Gelassenheit, mitunter aber auch spröder Öffentlichkeitsarbeit, zum Titel. Nun lachte und scherzte die 52-Jährige plötzlich nach Herzenslust in der Pressekonferenz. Nirgendwo hätten ihre vielen Komplimente an die Spielerinnen so gut hingepasst wie an die englische Südküste, wohin frisch verliebte Londoner gerne entfliehen.

Den Torrausch trat die bald für den FC Bayern München spielende Georgia Stanway mit einem Elfmeter los (12.), danach folgten Treffer von Lauren Hemp (16.), Ellen White (29., 41.), Beth Mead (34., 38. und 81.) und Alessia Russo (66.). »Es ist schwierig, für diese Nacht noch Worte zu finden. Wir haben das alles sehr genossen, aber wir haben ehrlicherweise nicht damit gerechnet«, sagte die zur besten Spielerin des Matches gekürte Außenangreiferin Mead, die wie die Möwen am Brighton Beach über dieser Partie zu schweben schien. Nicht nur die flinke Angreiferin vom Arsenal FC schien ihrer Gegenspielerin gedanklich und körperlich, taktisch und technisch haushoch überlegen. In vorderer Reihe überragte zudem die nach ihrer Covid-Infektion schon wieder topfitte Torjägerin White, die mit 52 Länderspieltoren nun geschlechterübergreifend an der Spitze des englischen Fußballs thront. »Ich fühle mich glücklich, aber diese Vergleiche sind immer schwer«, sagte die 32-Jährige jenen Reportern, die sie auf das Wettschießen mit Harry Kane (50 Tore) angesprochen hatten.

»The Lionesses« pflegen einen dynamischen Angriffsfußball, vornehmlich über die Flügel angelegt. Furiose Soli und formidable Kopfballtore werden eingebaut, ohne auch nur ansatzweise das typische Kick and Rush zu bemühen – das alles hebt das sich selbst berauschende Ensemble aufs Favoritenschild der EM. In letzter Instanz klagte Mary Earps über so akute Unterbeschäftigung, dass sich die in ihrer Zeit beim VfL Wolfsburg nicht als Ausbund von Tüchtigkeit aufgefallene Torhüterin in der Halbzeitpause noch einmal warmschießen ließ.

Der Gruppensieg ist bereits eingetütet, die dritte Partie gegen Nordirland in Southampton wird am Freitag ein Schaulaufen für die zweite Reihe. Wiegman mahnte mit Blick auf die K.-o.-Runde: »Es gibt viele Teams, die eine Menge Power haben.« Die Energie in ihren Reihen ergibt sich auch aus dem Rückhalt aus Gesellschaft, Medien und Sponsoren, der seine Wirkung nicht verfehlt: Die South Western Railway musste am Montagabend ein eigenes Gleis mit Absperrgittern versehen, um den Andrang auf die Züge zu kanalisieren. Vor den Fanshops am Stadion bildeten sich lange Schlangen, und wie selbstverständlich trugen die Anhänger vornehmlich Jerseys mit den Namen der Spielerinnen, die auch für Bierbauchträger in XXL-Format zu haben sind. Bei der Zusammensetzung des Publikums – gefühlt je ein Drittel Frauen, Männer sowie Jugendliche und Kinder – klang die Kulthymne »Football’s Coming Home« vielleicht etwas weicher, aber ansonsten fehlte es in der Heimstätte des Premier-League-Klubs Brighton Hove & Albion an nichts.

Irgendwann brannten Handylichter als Wunderkerzenersatz – und zwischendrin immer wieder ausufernder Torjubel. Oben im letzten Rang rätselten selbst die Analysten der Football Association (FA), wie eine zuvor auf Augenhöhe angesiedelte EM-Begegnung die Ebene eines Trainingsspiels annehmen konnte. »Ich dachte, wir hatten einen guten Plan, aber 85 Minuten waren wir furchtbar«, stammelte Norwegens Nationaltrainer Martin Sjögren danach. Für das letzte Gruppenspiel gegen Österreich, das sein Team zum Weiterkommen zwingend gewinnen muss, sei es wohl am besten, »dass wir dieses Spiel schnell vergessen«.

Norwegen ist zweimaliger Europameister (1987 und 1993), und auch beim vorletzten EM-Turnier im Jahr 2013 unterlag man Deutschland erst nach zwei verschossenen Elfmetern im Finale. Die Kräfteverhältnisse sind gekippt, wenn diese stolze Fußballnation bei den Frauen die höchste Pleite ihrer 1978 begonnenen Länderspielgeschichte kassiert. Obwohl sich der Trupp um die unsichtbar wirkende Starstürmerin Ada Hegerberg nach jedem Gegentor tapfer Mut zusprach, zerfiel er doch komplett in seine Einzelteile. »Es war der schlimmste Tag, den ich je im Fußball erlebt habe«, räumte Torhüterin Guro Pettersen ein. Die für Manchester United spielende Verteidigerin Maria Thorisdottir fasste in derbem Englisch zusammen: »It was really shit!«

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