Die volle Dröhnung Donnarumma

Italiens Torwart entscheidet das Finale gegen England und wird zum besten Spieler der EM gewählt

  • Frank Hellmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Erstaunen war offenkundig. Eigentlich hatte die Siegerehrung noch gar nicht begonnen, Italiens neue Europameister hatten nach dem dramatischen 3:2-Sieg im Elfmeterschießen noch nicht mal ein Spalier für die unterlegenen Engländer geformt, als Gianluigi Donnarumma auf dem heiligen Rasen von Wembley einen Hinweis empfing. Der italienische Torwart solle doch mal nach vorne gehen, um sich die Auszeichnung zum »Player of the tournament« abzuholen. Der 22-Jährige wirkte sichtlich verdutzt, betrachtete aber bald sehr genau die eigenwillig anmutende Trophäe. Vielleicht nicht wirklich hübsch, aber allemal wertvoll. Zumal er nun der erste Torhüter bei einer EM ist, an den diese Auszeichnung ging, die 1996 an gleicher Stelle erstmals Matthias Sammer empfing. Danach waren feine Strategen wie Zinédine Zidane, Theodoros Zagorakis, Xavi Hernández, Andrés Iniesta und Antoine Griezmann an der Reihe. Doch nun entschieden sich 16 Technische Beobachter im Auftrag der Uefa, darunter der 1996er-Europameister Steffen Freund, für die »Bank von Italien«.

Für seinen Trainer Roberto Mancini ist der so erwachsen wirkende junge Mann mit dem mächtigen Bart und dem breiten Kreuz der »beste Torhüter der Welt« - und nicht allein wegen 1,96 Meter Körpergröße eine herausragende Erscheinung. Nur vier Gegentore, neun wichtige Paraden und die gehaltenen Elfmeter des Spaniers Alvara Morata im Halbfinale und nun der Engländer Jadon Sancho und Bukayo Saka katapultieren ihn nach seinem 33. Länderspiel in den Mittelpunkt der Huldigungen. Europameister, Elfmeterheld und bester Turnierspieler - die volle Dröhnung. Für ihn war diese EM ein einziger Triumphzug, wobei er die Lobpreisungen mit einer Bärenruhe ertrug, als müsste er beim Feiern noch als Stabilisator fungieren. »Stolz darauf, allen Italienern ein Lächeln geschenkt zu haben und gemeinsam mit unseren außergewöhnlichen Fans so viele magische Nächte erlebt zu haben«, schrieb Donnarumma auf seinem Instagram-Account.

Italien hat sich nach der verpassten WM 2018 eindrucksvoll zurückgemeldet. Die wundersame Wiederauferstehung der Squadra Azzurra ist eng mit dem Architekten Mancini verknüpft, der als Nationaltrainer binnen dreier Jahre eine Verwandlung in ein kreatives, spielfreudiges und ungemein flexibles Ensemble hinbekommen hat, in dem sich das ganze Land wiederfindet. Nach dem Triumph weinte der 56-Jährige in den Armen seines Delegationsleiters Gianluca Vialli, mit dem ihn aus gemeinsamen Zeiten bei Sampdoria Genua eine lange Freundschaft verbindet. Erst Mancini hat ein Team geformt, das mit seiner Solidarität zum Vorbild werden kann.

»Der Trainer hat uns gezeigt, dass wir etwas Außergewöhnliches schaffen können, wenn wir daran glauben«, sagte der zum besten Spieler eines spannenden, aber nicht hochklassigen Endspiels gewählte Verteidiger Leonardo Bonucci, der das Abstaubertor zum 1:1 (67.) erzielte, nachdem Luke Shaw für die furios startenden Engländer bereits nach 116 Sekunden getroffen hatte. Aber nach dem Blitzstart der Three Lions kroch die Angst bei Spielern und Zuschauern hoch, dass es noch schiefgehen könnte - und so kam es auch, nachdem Marcus Rashford einen Elfmeter an den Außenpfosten setzte, ehe Donnarumma zweimal hintereinander für die verunsicherten englischen Jungstars zum unüberwindbaren Hindernis wurde.

An dem vom Glück geküssten Torwart-Wunderkind imponiert nicht nur eine ausgesprochen ausgewachsene Erscheinung, sondern auch eine extreme Coolness bei frühreifer Prägung. In Italien wachsen eben immer wieder außergewöhnliche Torhüter heran, die dem großen Ganzen erst die nötige Sicherheit geben. Donnarumma verließ seine sizilianische Heimat Castellammare di Stabia mit 13, um in das Jugendinternat des AC Mailand zu wechseln. Mit 16 debütierte »Gigio« in der Serie A, mit 17 in der Squadra Azzurra, als er zur Halbzeit für jenen Gianluigi Buffon eingewechselt wurde, von dem Donnarumma lange ein Poster in seinem Kinderzimmer hängen hatte.

Und dann hat Italien immer noch die Torwartlegende Dino Zoff, heute 79 Jahre alt, der zuvor mit Italien den bislang einzigen EM-Titel gewonnen hatte. 1968, ewig lang her. Zoffs Uraltrekord hatte Donnarumma schon während der EM kassiert, als er 1169 Länderspielminuten ohne Gegentor blieb. Dass bei ihm speziell in der K.o.-Runde nicht jeder Ausflug oder Zugriff saß, gehört zur noch nicht abgeschlossenen Entwicklung. Aber der Tormann verkörpert die Zukunft, während der Recke Bonucci mit 34 Jahren und sein nicht minder unverwüstlicher und zwei Jahre älterer Nebenmann Girorgio Chiellini die Brücke in die Vergangenheit schlagen. Seine unaufgeregten Taten könnten das Torwartspiel prägen: Der beste Rückhalt ist der, der die größte Ruhe ausstrahlt.

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Auch sein Standing bei den Tifosi wird nun wieder neu definiert, nachdem ihn Landsleute vor vier Jahren bei der U21-EM mit Dollarnoten beworfen hatten, weil er ein üppiges Vertragsangebot von Milan abgelehnt hatte - »Dollarumma« hieß er fortan. Damals blieb er noch bei den »Rossoneri«, nun kehrt er seinem Heimatland den Rücken: Der ablösefreie Wechsel zu Paris St. Germain ist von seinem Berater Mino Raiola längst ausverhandelt. PSG-Präsident Nasser Al-Khelaifi dürfte sich als Gast beim EM-Finale in London bereits die Hände gerieben haben, welch hochdekorierten Torwart sich sein Klub geangelt hat.

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