Täter und Fluchthelfer

Südamerika war Ziel für Priester, gegen die wegen Sexualdelikten ermittelt wurde

Die priesterliche Macht half Tätern immer wieder.
Die priesterliche Macht half Tätern immer wieder.

Wer eine katholische Kirche in der Weihnachtszeit besucht, der kennt Adveniat, das Lateinamerika-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland. Im Advent werden in jedem Jahr Gelder für Hilfsprojekte gesammelt. Eng verbunden mit Adveniat ist Emil Stehle. Der 2017 verstorbene Bischof war von 1972 bis 1984 Geschäftsführer des Hilfswerks. Zugleich leitete er die westdeutsche Koordinationsstelle Fidei Donum. Sie wurde 1957 von Papst Pius XII. ins Leben gerufen. Über sie wurden Priester nach Asien, Afrika und Südamerika vermittelt. Allein aus Deutschland gingen über 400 Priester für Einsätze nach Südamerika. Das alles ist wichtig zu wissen, um den Wirkungskreis von Emil Stehle zu verstehen.

Was die Kölner Rechtsanwältin Bettina Janssen nun über Stehle, und damit auch über die katholische Südamerika-Hilfe, in einem Gutachten zusammengefasst hat, zeigt ein erschreckendes Bild von Machtmissbrauch, Täternetzwerken und der Überhöhung von Priestern. Mit der Veröffentlichung einer Missbrauchsstudie aus dem Bistum Hildesheim wurden im vergangenen Jahr Vorwürfe gegen Emil Stehle bekannt. Als Leiter von Fidei Donum strich Stehle den Namen eines Priesters, der von der deutschen Polizei gesucht wurde, von einer Liste in Paraguay tätiger Priester. Er sorgte auch dafür, dass der Priester über das Konto eines Mittelsmanns monatlich 200 Mark von der Deutschen Bischofskonferenz bekam. Insgesamt unterstützte Stehle mindestens drei deutsche Priester, denen Strafverfahren drohten. Diese Ergebnisse der Studie führten dazu, dass die Bischofskonferenz und Adveniat Bettina Janssen mit einem eigenen Gutachten zum Wirken Stehles beauftragten.

Dieses Gutachten wurde am Montag veröffentlicht, und es belastet den Bischof, der jahrzehntelang in verschiedenen Ländern Südamerikas aktiv war, schwer. Janssen hat für ihre Untersuchung Kirchenakten, Protokolle von Gesprächen mit Adveniat-Mitarbeiter*innen und Zeugenaussagen ausgewertet. Daraus ergeben sich 16 Hinweise auf sexualisierten Missbrauch durch Stehle. Seine Opfer waren dabei oft junge Frauen. Teilweise waren sie zum Tatzeitpunkt noch minderjährig. Der erste im Bericht erwähnte Fall geht auf das Jahr 1957 zurück, weitere Berichte durchziehen die Laufbahn des Bischofs bis in die 1990er Jahre.

Dabei sind Muster zu erkennen. Stehle machte sich seine herausgehobene Stellung in Südamerika zunutze. So berichtet ein Opfer, dass es durch Vermittlung seiner Eltern zu einem Gespräch in Stehles Essener Wohnung eingeladen worden sei. Der Bischof sollte der Frau helfen, eine Stelle in einem Kindergarten in der deutschen Pfarrgemeinde in Bogotá zu bekommen. Er sorgte dafür, dass es klappte. Bei einem Glas Wein wollte der Bischof dann, dass die Frau sich bedankt und ihn küsst. Er fasste der Frau an die Brüste. Sie setzte sich weg, Stehle beschwerte sich. »Jetzt komm doch«, sagte er der Frau zufolge. »Wir sind doch so eng.« Die Frau verließ das Wohnzimmer, sperrte sich im Gästezimmer ein und verließ die Wohnung heimlich. Später in Bogotá traf sie den Bischof wieder, er versuchte erneut sich ihr anzunähern. Ein Pfarrer und eine Gemeindereferentin, denen sich die Frau anvertraute, schützten sie in der folgenden Zeit und sagten: »Da gehst du nicht hin.« Eine Meldung bei kirchlichen Stellen erfolgte nicht. Das sei damals nicht üblich gewesen, so die Frau.

Immer wieder, wenn Stehle sich annäherte, war Alkohol im Spiel, er benebelte seine Opfer. Die Schuld suchten sie anschließend bei sich selbst. Außerdem war Stehle ein gefeierter Geistlicher. In El Salvador vermittelte er zwischen Guerilla und Regierung, er wurde 1994 sogar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. So jemanden wollten und konnten die Opfer, die oft aus »gut katholischen Haushalten« stammten, nicht beschuldigen.

Nach der Veröffentlichung des Berichts erklärte die Generalsekretärin der Deutschen Bischofskonferenz, Beate Gilles, dass dies kein »Schlusspunkt« für die Aufarbeitung sein könne, sondern »noch zu klärende Konsequenzen« gezogen werden müssten. Die Entsendung von Priestern müsse kritisch reflektiert werden. Das System habe nicht adäquat auf Missbrauch reagiert.

»Nach den Ergebnissen der Aktenuntersuchung ist es möglich, dass es weitere sexuelle Übergriffe durch Stehle gab. Auch kann es durchaus sein, dass Stehle weiteren Priestern in Lateinamerika zur Tarnung verhalf, was aber in den Akten, weil heikel, nicht dokumentiert war«, erklärt Bettina Janssen, die das Gutachten erstellt hat. Es sei jetzt notwendig, zusammen mit den zuständigen lateinamerikanischen Bistümern »sensible Anstrengungen« zu unternehmen, um mögliche von den Taten Stehles oder anderer Priester Betroffene zu erreichen. Auch einen anderen Untersuchungsaspekt hält Janssen für wichtig. In den Unterlagen, die ihr vorlagen, habe es kaum Hinweise darauf gegeben, was kirchlichen Stellen über Stehles Übergriffe bekannt gewesen sei und ob daraus Konsequenzen gezogen worden seien.

Für die Vermittlung von Priestern durch Fidei Donum schlagen sowohl Janssen als auch Gilles eine Überarbeitung der Strukturen vor. Für die Generalsekretärin ist klar, dass es einen Nachweis dafür geben müsse, dass zur »Entsendung vorgesehene Personen im Bereich sexueller Übergriffigkeit nicht vorbelastet sind«.

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