Wenn Tunnelblick das Denken ersetzt

»Wie der Westen in Afghanistan scheiterte« – eine Analyse von Michael Lüders

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Am 15. August 2021 zogen die Taliban in den Präsidentenpalast von Kabul ein. Kampflos. Der längste Krieg der USA und ihrer Verbündeten ging zu Ende. Ein überstürzter Abzug: Abertausende afghanische Ortskräfte wurden ihrem Schicksal überlassen. Eine Niederlage: militärisch und humanitär. Das Gegenteil dessen wurde erreicht, was angestrebt worden war. Ging es überhaupt um Demokratie, westliche Werte, Frauenrechte? Ist das nicht schon längst das Deckmäntelchen für rücksichtslose westliche Machtpolitik?

»Hybris am Hindukusch« hat Michael Lüders sein Buch genannt. Hybris: Überlegenheitswahn. Wer die so vielgestaltige Welt mit eigenen Vorstellungen dominieren will, muss mit Gegenwehr rechnen. Die Terroranschläge des 11. September 2001 trafen kein friedliches Land und wurden mit Terror beantwortet. Schnell waren die Schuldigen ausgemacht. »Obwohl kein Einziger der Attentäter aus Afghanistan stammte«, schreibt Michael Lüders, »erschien das Land am Hindukusch als das ideale Angriffsziel.« Zunächst schien alles gut zu gehen. Die Taliban wurden gestürzt. Wie kam es, dass sie siegreich zurückkehren konnten?

Auf spannende Weise führt Michael Lüders einem dieses Land vor Augen. Durch grandiose Hochgebirge zerklüftet, setzt es einer Zentralmacht Grenzen. »Wer etwa von Jalalabad aus Richtung Norden fährt, findet sich bald wieder in einer Welt, die sich seit der Zeit des Propheten Mohammed kaum verändert haben dürfte. Es gibt weder Strom noch fließend Wasser, (…) die Männer beackern das karge Land, meist mit bloßer Muskelkraft. Die Frauen hüten die schlichten Lehmhütten unscheinbarer Weiler und sind weitgehend unsichtbar (…). Kaum jemand kann lesen und schreiben.«

Eine Bevölkerung, gespalten in regionale ethnische Gruppen – soziale und ökonomische Rückständigkeit zu überwinden gelingt nicht von außen und vor allem nicht mit Gewalt. Doch immer ging es dem Ausland um Macht, Handelswege und Landgewinn. Schon im 19. Jahrhundert kollidierten britische, russische und osmanische Interessen in dieser Region. Drei britische Afghanistan-Kriege scheiterten, es gab willkürliche Grenzziehungen – und 1919, mit der afghanischen Unabhängigkeit, waren die Unruhen noch längst nicht vorbei.

Aufschlussreich ist, wie Michael Lüders insbesondere auf die Lage der Paschtunen eingeht, von denen 38 Millionen in Afghanistan und rund 210 Millionen in Pakistan leben, wo die Taliban – mehrheitlich Paschtunen – stets auf Unterstützung zählen können. Bis heute werden vorsichtige Versuche der Modernisierung und Verwestlichung nur von einer dünnen Oberschicht in Kabul getragen. Herrscher, die in diesem Sinne agierten, mussten fliehen oder wurden ermordet. Auch der zeitweilige Siegeszug der Kommunistischen Partei, von der Sowjetunion gestützt, war solch ein Elitenprojekt – eine Kriegserklärung für die traditionellen Eliten.

Den Einmarsch sowjetischer Truppen in das von einem Bürgerkrieg gebeutelte Land nennt Michael Lüders eine »fatale Entscheidung«, mehr noch, die »Ignoranz gegenüber den Gegebenheiten in Afghanistan« trug »maßgeblich zum Untergang der Sowjetunion« bei. »Der Krieg in Afghanistan wurde zum Brandbeschleuniger des gewaltbereiten Dschihadismus in allen Teilen der islamischen Welt«, zumal die USA gegen die Sowjetunion »am Hindukusch Geister riefen, die sich in naher Zukunft gegen sie selbst richten würden.« Die CIA-Hilfe für die Mudschaheddin hatte bereits vor der sowjetischen Invasion eingesetzt. »Dass die Russen in die afghanische Falle gelaufen sind«, triumphierte der strategische Vordenker Zbigniew Brzezinski. »Jetzt haben wir die Gelegenheit, der UdSSR ihren Vietnam-Krieg zu verpassen.«

Man musste den Abzug der sowjetischen Truppen 1989 begrüßen, doch in der Folge begannen die verschiedenen Mudschaheddin-Truppen und ihre Anführer einander zu bekämpfen. Gegen diese Warlords haben die als Volkstribunen auftretenden Taliban mit ihren einfachen und strengen Regeln bei der armen Bevölkerung Zuspruch gefunden. Ein ganzes Kapitel widmet Lüders der Burka, die für Paschtuninnen seit Jahrhunderten zur Stammestradition gehört. Unter den archaischen Lebensbedingungen, so des Autors nüchternes Fazit, wird es »eine weibliche Emanzipation nur sehr langfristig geben. Eher in 100 Jahren als in zehn.« Sich damit abfinden zu sollen tut weh.

»Das Thema Frauen ist bis heute ein Schwerpunkt medialer Berichterstattung über Afghanistan. Nicht etwa die Frage nach Sinn und Unsinn« jenes Krieges, den Lüders im Hauptteil seines Buches beleuchtet. »Es braucht schon ein stark ausgeprägtes Maß an imperialer Verblendung, um ernsthaft anzunehmen, man könne Frauen in eine Art von Freiheit hineinbomben und hineinbesetzen, in die sie gar nicht hineingebombt und hineinbesetzt werden wollen«, wird die US-amerikanische Frauenrechtlerin Belén Fernández zitiert.

Zahllose Kriegsverbrechen, darunter auch das deutsche Massaker in Kundus. »Wenn die maßgeblichen globalen Akteure beschließen, Krieg zu führen, ganz gleich gegen wen, so greifen die hinlänglich bekannten propagandistischen Mechanismen an der Heimatfront. Gut gegen Böse, wir gegen die, Freiheit oder Totalitarismus, präventive Notwehr, Aufklärung versus Mittelalter, Terror!, unsere Werte verteidigen und dergleichen mehr. Nicht zu vergessen die Frauenrechte, der rhetorische Dampfhammer schlechthin …« Die NATO hat ihren bislang längsten Krieg verloren, gewonnen hat der militärisch-industrielle Komplex.

Wie man die Gegenwart mitdenkt, gehört zum Ertrag dieses Buches. Denn auch heute gilt nur allzu oft, dass der Tunnelblick das Denken ersetzt, dass Planungen von westlichen Schreibtischen aus die Realität verkennen, politische Ziele ohne Rücksicht auf Verluste verfolgt werden und die Niederlage dann irgendwie in einen Sieg umgedeutet werden muss.

Michael Lüders: Hybris am Hindukusch. Wie der Westen in Afghanistan scheiterte. C.H. Beck, 203 S., br., 14,95 €.

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