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Tories lässt die Teuerung kalt

Britische Konservative halten trotz sozialer Krise im Land an wirtschaftsliberalen Dogmen fest

  • Ian King, London
  • Lesedauer: 4 Min.

In einem Offenen Brief an Großbritanniens Noch-Premier Boris Johnson mahnt die Joseph-Rowntree-Stiftung gemeinsam mit 70 weiteren karitativen Organisationen, dass es höchste Zeit ist, angesichts von ruinösen Preissteigerungen im Land energisch zu handeln. Bisherige Regierungsmaßnahmen würden nicht ausreichen. Eine halbe Million Briten, darunter 200 000 Kinder, werde in den kommenden Wochen wegen rasant steigender Gas-, Öl- und Lebensmittelpreise in die Armut abrutschen und im Herbst mit der Alternative »eat or heat« (essen oder heizen) konfrontiert sein.

Die seit 1904 bestehende Joseph-Rowntree-Stiftung wird vom sozial engagierten Süßwarenhersteller Rowntree’s in York im Norden Englands betrieben und steht keiner Partei nahe. Ihr Vorstoß bringt Johnsons Getreue in arge Verlegenheit, die nach der Devise untätig bleiben: »Wir dürfen bis zur Wahl des neuen Premierministers nichts tun.« Bevor Johnson den Amtssitz in der Downing Street Anfang September räumt, hat er eine Woche Urlaub in Slowenien gemacht und sonnt sich zurzeit in Griechenland. Zwischendurch feierte Boris mit Frau Carrie ein von der Tory-Industriellenfamilie Bamford – Eigentümer des Baumaschinenherstellers JCB – gesponsertes rauschendes Hochzeitsfest. Von den Existenzkrisen seiner Landsleute zeigt sich der scheidende Premier völlig unbeeindruckt und bleibt sich so bis zuletzt selbst treu.

Dringende Ratschläge erhält die Tory-Ministerriege auch von der Opposition. Gordon Brown, Labour-Premier von 2007 bis 2010, verlangt beispielsweise das sofortige Einfrieren der schon jetzt zu hohen Energiepreise. Private Konzerne wie Shell und BP machen zurzeit wegen der Ukraine-Invasion ohne eigenes Zutun Rekordgewinne. Eine Sondersteuer – und soweit nötig die kurzfristige Verstaatlichung von kleineren Stromherstellern – empfiehlt der nicht gerade als Revolutionär verschriene Schotte. Sein Parteichef Sir Keir Starmer stimmt zwar den Verstaatlichungsideen nicht zu, greift jedoch beim Einfrieren der Energiepreise Browns Vorschläge auf. Den von den Tories beschlossenen Plan einer weiteren Fast-Verdoppelung der Energiepreise im Oktober lehnt der Labour-Vorsitzende scharf ab. Die Sondersteuer – und nötigenfalls auch weitere Staatshilfen für die Armen im reichen Britannien – hält Starmer dagegen für notwendig; dieses Konzept sei »sehr stark, robust, bis ins Einzelne durchgerechnet und bekämpfe die Inflation«. Damit steht er im klaren Gegensatz zu den untätigen Regierenden: Allerdings sind auch die besten Oppositionsparolen stets billig.

Den beiden Konkurrenten um die Johnson-Nachfolge, dem ehemaligen Finanzminister Rishi Sunak und der amtierenden Außenministerin Liz Truss, sind solche Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung unbequem. Sunak verspricht zwar weitere Hilfen für Bedürftige, bleibt bei den Details aber im Ungefähren. Kein Wunder, will er doch von einer weit rechts stehenden Klientel, den rund 160 000 Mitgliedern der Konservativen Partei, als neuer Vorsitzender mit dem Anrecht auf das Amt des Regierungschefs gewählt werden. Trotz seiner Durchhalteparolen hat der Indischstämmige bei der Tory-Basis einen schweren Stand: Nach der neuesten Umfrage wollen nur 39 Prozent der Tories, die sich schon festgelegt haben, dem smarten Multimillionär ihre Stimme geben. Noch hofft Sunak darauf, bisher unentschiedene Konservative von seinen Qualitäten zu überzeugen. Von den nicht wenigen verbliebenen Johnson-Anhängern wird er allerdings wegen seines Rücktritts, der den Sturz des Downing-Street-Nachbarn unmittelbar herbeigeführt hatte, als »Königsmörder« abgelehnt.

Die nach der Umfrage mit 61 Prozent klar führende Außenministerin Truss hat es leichter. Sie wendet sich bewusst an die Parteirechte, lehnt Hilfen für Bedürftige rundweg ab und plant stattdessen sofortige Steuerermäßigungen, die Unternehmen und Reichen zugutekommen. Während die christlich orientierte Rowntree-Stiftung zur Soforthilfe für Arme aufruft, beherzigt Liz Truss eher das aus dem Matthäusevangelium bekannte Motto »Wer hat, dem wird gegeben«. Dass sie sich angesichts der Not so vieler Landsleute nach gewonnener Wahl anders besinnt, ist unwahrscheinlich. Einzig niedrigere Steuern würden das notwendige Wirtschaftswachstum bringen, beteuert Truss bei ihren Auftritten landauf, landab. Beweise für ihre These bleibt sie schuldig. Während der Tory-Herrschaft nach diesem Credo in den vergangenen 12 Jahren lag die Wachstumsrate lediglich bei kümmerlichen anderthalb Prozent pro Jahr, deutlich unter den Werten während der Labour-Regierungen unter Brown und Tony Blair.

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