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Macht Essen, nicht Krieg
Die »Küche für alle« in Libanon bringt Menschen einander näher, die sich früher mit Waffen bekämpft haben
»Wir wollen Frieden schaffen, wir sind die Generation des Bürgerkriegs«, sagt Christine Codsi, die mit ihrem Partner Kamal Mouzawak seit bald 20 Jahren die Organisation Souk al Tayeb, arabisch: »Markt der guten Dinge« aufgebaut hat. Ziel sei es, Arbeit im Libanon zu schaffen und zu fördern, die das Land und die Leute, Tradition und gutes Essen in den Mittelpunkt stellen. »Ich war ein Jahr alt, als der Bürgerkrieg 1975 begann, ich kannte nichts als Krieg«, sagt sie. Sie habe in einem Teil von Beirut gelebt, der Bruder in einem anderen Teil, sie dachte, so sei das Leben. Nach dem Krieg erst habe sie den Libanon entdeckt. »Wir haben 17 verschiedene Religionsgemeinschaften, die alle ihre eigenen Traditionen und Spezialitäten haben. Das macht unser Land vielfältig und reich, Souk el Tayeb will allen diesen Reichtum zeigen.«
Auf dem Weltmarkt sollen 2022 aufgrund des Krieges in der Ukraine zehn bis zwölf Millionen Tonnen Weizen fehlen. Der Preis für Weizen steigt seit Jahren an. Durch die Verknappung im zweiten Jahresquartal 2022 sind die Preise weltweit um bis zu 60 Prozent gestiegen.
Im Libanon kostet eine Tonne Getreide aktuell rund 600 US-Dollar. Nach Angaben des Welternährungsprogramms brauchen rund 53 Prozent der Menschen im Libanon Hilfe, um den Alltag zu bestehen – das sind 2,1 Millionen. 46 Prozent der Libanesen haben keine gesicherte Ernährung. Die Preise für Nahrungsmittel im Zedernstaat haben sich seit Oktober 2019 um mehr als 15 Mal verteuert. Das Welternährungsprogramm unterstützt 100 000 libanesische Familie, das sind etwa 400 000 Personen, mit Nahrungsmittelpaketen.
Mehr als die Hälfte der rund fünf Millionen Libanesen werden von Familienangehörigen aus dem Ausland unterstützt. Rund eine Million syrische Flüchtlinge erhalten Unterstützung von verschiedenen UN- und anderen internationalen Hilfsorganisationen. kal
Die schmale Frau mit dem dichten Lockenkopf ist ernst und konzentriert, während sie über den Souk al Tayeb, den »Markt der guten Dinge« berichtet. Der sei erstmals 2004 eröffnet worden und nach und nach hätten rund 90 Bauern aus der Umgebung von Beirut dort ihre Produkte angeboten. Der Markt sollte die Bauern ebenso stärken wie die bäuerliche Landwirtschaft. »Die Landwirtschaft war vor dem Bürgerkrieg ein sehr wichtiger Teil der nationalen Ökonomie«, erinnert Christine Codsi. »Doch wie vieles war durch den Krieg die Landwirtschaft zerstört worden. Anfang der 2000er Jahre war die Lage so, dass Kleinbauern ihre Produkte nur weit unter Preis an den Großmarkt verkaufen konnten, selbst wenn sie qualitativ hochwertig waren. Viele stellten damals ihre Arbeit, verließen ihr Land und gingen in die Stadt, um irgendeine andere Arbeit zu suchen.« Der »Markt der guten Dinge« sollte das ändern und vor allem Kleinbauern und -bäuerinnen aus dem ganzen Libanon eine Chance geben, ihre Produkte direkt und lohnend zu verkaufen.
»Unser Ziel war, dass die Menschen nicht nur im Land, sondern auch auf ihrem Land bleiben und es bearbeiten. Für ihre Produkte sollte ein lokaler Markt geschaffen werden.« Jeder Bauer konnte mit dem Verkauf seiner Produkte zehn weitere Leute ernähren, in der Familie, im Dorf, so Christine Codsi: »Die Menschen blieben in den Dörfern und es entstanden neben Obst, Gemüse und Kräutern weitere Produkte: Frauen boten eingelegte Früchte an, Marmeladen, Honig. Kunsthandwerk kam dazu.«
Ein weiterer Schritt war, die Trennung zwischen Stadt und Land zu überwinden. Die Menschen in den Städten sollten die libanesischen landwirtschaftlichen Produkte und deren Produzenten kennen und schätzen lernen. So entstand aus dem »Markt des Guten« mit den Bauern und vor allem mit den Bäuerinnen die Idee, kleine Tourismusprojekte zu entwickeln. Zunächst wurden Wanderungen in den Dörfern der Bauern organisiert, mit Einkehr und dem Kennenlernen lokaler Speisen. Dann wurden auch bescheidene Übernachtungsmöglichkeiten angeboten für diejenigen, die vielleicht ein Wochenende oder auch länger in der ländlichen Umgebung verbringen wollten. Schließlich wurden alte Häuser traditionell restauriert und zwischen 2015 und 2019 entstanden fünf Gästehäuser in verschiedenen Landesteilen, in denen auch Speisen in »Bauernküchen«-Restaurants angeboten wurden.
»In den Gästehäusern und Küchen arbeiten nur Leute aus den jeweiligen Dörfern oder der Umgebung«, sagt Christine Codsi. Es sei ein Prinzip, nicht nur lokal zu produzieren, sondern dass die Arbeit auch von Menschen aus dem Ort und der direkten Nachbarschaft gemacht würden. »Das bringt die Arbeit in die Dörfer und die Menschen können sich die teuren Fahrten in die Stadt zur Arbeit sparen.«
Die lokalen, traditionellen libanesischen Speisen wurden schließlich auch in einem Restaurant mit dem Namen »Tawlet«, arabisch für die Bauernküche, in Beirut angeboten. Neben dem Restaurant entstand ein Bauernladen, arabisch Dekenet, wo die Produkte der Bauern und Bäuerinnen verkauft wurden. Die Sache war ein Erfolgsmodell. Nach und nach entstanden weitere Tawlet-Restaurants in anderen libanesischen Städten, Bauernmärkte boten in verschiedenen Vierteln von Beirut »Gutes« nicht nur aus der Umgebung von Beirut, sondern aus anderen Landesteilen an.
2019 war um den »Markt der guten Dinge« und die »Bauernküche« eine Organisation entstanden, die vielen Menschen Arbeit gab und noch mehr Menschen die Möglichkeit, von den Früchten ihrer Arbeit – dem Gemüse, den Speisen – zu leben. Über die Liebe zum Essen und die Liebe zu guter und schmackhafter Zubereitung des Essens kamen sich Menschen aus allen Landesteilen, die im Bürgerkrieg 15 Jahre lang miteinander verfeindet waren, wieder näher.
2019 sei eine Zeitenwende für sie gewesen, erinnert sich Codsi: »Alles kam auf einmal. Der wirtschaftliche Kollaps, die Revolution, die politische Krise, es war für alle ein Schock und wir mussten viele Geschäfte schließen.« 2020 wurde das Land wegen der Corona-Pandemie für Monate stillgelegt, der Flughafen blieb geschlossen. Am 4. August 2020 war die Explosion im Hafen von Beirut, besonders hart betroffen war Mar Mikhail, der Stadtteil, in dem Souk al Tayeb war. »Alles war zerstört, wir dachten, wir wären total am Ende«, erinnert sich Christine Codsi. »Aber die Libanesen haben irgendwie diese Fähigkeit, wieder auf die Beine zu kommen.«
»Uns ist es gelungen, unsere Ressourcen gut einzusetzen. Niemand wurde entlassen, einige verließen von sich aus das Land und wir schafften es, wieder neu anzufangen. Wir waren die ersten, die hier in Mar Mikhail wieder öffneten. Die Leute dachten, wir seien verrückt.« Langsam, sehr langsam sei das Angebot wieder angenommen worden. »Den neuen Platz hier haben wir von der gegenüberliegenden Kirchengemeinde mieten können. Wir bauen unsere eigenen Stühle und Tische, wir brauchen nicht viel Firlefanz, alles bei uns ist einfach und praktisch.« Aus der alten Küche sei einiges zu retten gewesen, Töpfe, Pfannen, Geräte. Die neue Küchenrichtung hätten sie mit einer Spende der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), kaufen können. »Jemand hat uns geholfen, dort einen Antrag zu stellen. Das hat geklappt.«
Souk el Tayeb sei weder von Parteien, noch von Politikern oder von der Regierung je unterstützt worden, fügt sie auf eine Frage hinzu. »Für uns ist die Unabhängigkeit sehr wichtig. Wir wollen nichts von Regierungen oder Nichtregierungsorganisationen, wir müssen und wir können auf eigenen Beinen stehen. Wir haben das bewiesen und darauf sind wir stolz.«
Allerdings seien die schwierigen Zeiten für den Libanon noch nicht vorbei, räumt sie ein. Zuletzt kam die Inflation und die Preise spielten verrückt. »Ich kann höchstens bis zum Jahresende planen«, was dann komme wisse niemand. »Wir haben ein Tawlet-Restaurant in Paris eröffnet und können unsere Produkte dorthin schicken, das hat uns etwas Luft verschafft.« Sie und ihr Partner Kamal hätten sich aufgeteilt: Er sei nach Paris gegangen, sie arbeite weiter in Beirut. »Vielleicht müssen wir noch andere Restaurants im Ausland eröffnen, um die Arbeit im Libanon weiter zu stabilisieren«, meint sie nachdenklich.
Nach der Explosion im Hafen von Beirut wurde im »Markt der guten Dinge« eine »Küche für alle« eröffnet, Matbakh El Kell. In den ersten Monaten nach der Explosion und im Jahr 2021 wurden täglich bis zu 1200 warme Mahlzeiten gekocht und an verschiedene Orte in Beirut verteilt, wo obdachlos Gewordene, arme oder alte Menschen versorgt wurden.
Die »Küche für alle« ist von Montag bis Freitag geöffnet. Sie ist in der Halle untergebracht, wo jeden Samstag die Marktstände mit den »guten Dingen« aufgebaut werden. Auch an diesem Morgen herrscht reges Treiben. 600 warme Mahlzeiten à 400 Gramm müssen bis 11 Uhr 30 in einzelne Boxen abgefüllt werden. Dann kommen die Kleintransporter, um sie abzuholen und an die Verteilstellen in verschiedene Stadtviertel zu bringen.
Am Recherchetag gibt es eine vegetarische Mahlzeit: Reisgemüse mit Tomaten, etwa 20 Personen sind beschäftigt. Zwei Personen wenden den Reis hin und her, damit er vor dem Abfüllen locker bleibt. Zwei andere füllen den Reis in Plastikbehälter – hergestellt in einer lokalen Firma – wiegen sie ab und zwei weitere stapeln sie in großen Kästen. An langen Tischen sitzen derweil die Küchenhilfen und bereiten die Zutaten für die Mahlzeit des kommenden Tages vor. Das Gemüse wird von den Bauern der Umgebung geliefert. Der Küchenchef hat sich die Ärmel aufgekrempelt und eilt von einer Besprechung hinüber zu den Frauen, die Kartoffeln und Zwiebeln schälen, schneiden und Petersilie hacken. Einer jungen Frau, die noch angelernt wird, zeigt er, wie die Zucchinis, die in einer großen Plastikschüssel neben ihr stehen, richtig in Scheiben geschnitten werden. Alles will gelernt sein. In einem weiteren Teil der Küche sind drei Leute zu sehen, die Geräte, Schüsseln und Töpfe putzen und scheuern und in Schränken verstauen. Alle arbeiten mit Kopfbedeckungen, mit Masken und Handschuhen – Hygiene wird großgeschrieben.
Die Küchenarbeiterinnen kommen aus den umliegenden Stadtvierteln und haben einen kurzen Weg zur Arbeit. Einige arbeiten nicht jeden Tag, sondern in Teilzeit. Die jungen Leute, die den Reis wiegen und verpacken, erzählen, sie seien als Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern »aus Rakka und Aleppo« nach Beginn des Syrien-Krieges 2011 in den Libanon gekommen. Die Bezahlung liegt je nach Arbeitsbereich zwischen 200 und 600 US-Dollar. Bezahlt wird in US-Dollar, zusätzlich gibt es einen Teil in Libanesischen Pfund.
Dann ist es Zeit aufzubrechen. Der Lieferwagen vom Beit el Baraka, dem »Haus des Segens«, hat rund 120 Mahlzeiten eingeladen. Die Fahrt geht nach Burj Hammoud. An der Außenwand der Halle vom Souk el Tayeb hängt ein großes Plakat: »Make food not war«, steht darauf: »Macht Essen, nicht Krieg.«
Anders als Souk el Tayeb ist Beit el Baraka, das »Haus des Segens«, eine libanesische Nichtregierungsorganisation. Vor dem Laden der Einrichtung stehen Bänke, auf denen einige ältere Männer und Frauen schon Platz genommen haben. Die Schalen mit dem Essen werden auf einem Tisch gestapelt. Verteilt wird nur an diejenigen, die als hilfsbedürftige Alte auf einer Liste registriert sind. Manche essen ihre warme Mahlzeit gleich dort, vor Ort, in der Gesellschaft von anderen. Ein alter Mann lässt sich zwei Mahlzeiten in eine Tasche packen und trägt sie nach Hause, um dort mit seiner gehbehinderten Frau zu speisen. Die restlichen Mahlzeiten werden mit dem Tok-Tok zu Hilfsbedürftigen gebracht, die nicht mehr das Haus verlassen können. Das Dreiradfahrzeug mit Überdachung erfreut sich angesichts hoher Benzinpreise im Libanon großer Beliebtheit.
Beit Al Baraka ist eine noch junge, erst 2018 gegründete Nichtregierungsorganisation. Das Gebäude wurde von einer Kirchengemeinde angemietet und bietet Platz für Seminare und Fortbildung. Natasha Gedeon ist Projektmanagerin und erklärt die Arbeit. Neu ist Kanz, ein Restaurant-Projekt, in dem – nach dem Vorbild der Tawlet-Restaurants – traditionelle, alte libanesische Speisen und Süßigkeiten gefertigt werden. Chefköchin Elissa Aboutass hat ihr Handwerk in Katalonien gelernt und ist erst vor Kurzem in den Libanon zurückgekehrt. Stolz zeigt sie einen Teller mit einer Süßigkeit aus kunstvoll gefaltetem Teig und Walnüssen, die so heute nicht mehr in Konditoreien zu kaufen sind. »Diese sind gerade frisch gebacken geworden. Bitte, probieren Sie.«
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