Prenzlauer Berg mit Kanälen

Notizen aus Venedig (3): Der Stadtteil Dorsoduro beherbergt heute hauptsächlich Touristen. Früher verliebte sich hier Rainer Maria Rilke.

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Touristen schlafen wohl noch: Ein Kanalstück im venezianischen Stadtteil Dorsoduro.
Die Touristen schlafen wohl noch: Ein Kanalstück im venezianischen Stadtteil Dorsoduro.

Zum ersten Mal, seit ich regelmäßig nach Venedig fahre, wohne ich im Stadtteil Dorsoduro. Natürlich ist das ein Fehler, denn dieser gilt als Szeneviertel. Darin gleiche ich einem Berlin-Besucher, der in Prenzlauer Berg absteigt, weil er sich hat einreden lassen, dort sei die Stadt besonders authentisch. Eine Touristenwohnung liegt hier neben der anderen – seit letztem Jahr müssen diese als solche extra mit einem Schild gekennzeichnet werden.

Touristen besuchen Touristen? Freilichtmuseum wäre noch nicht einmal das Schlimmste. Denn es sind nicht die kulturbeflissenen Besucher von Markuskirche, Akademia-Galerie oder Dogenpalast, die hier wohnen, sondern die gleiche Party-Karawane wie auch in Berlin, die morgen vielleicht schon nach Bukarest oder Tirana weiterzieht. Früher, als in Venedig noch Venezianer wohnten, versank ab elf Uhr abends die Stadt in völliger Stille, man wagte in den Gassen nur noch zu flüstern, weil sonst die Fensterläden aufflogen und der Zorn der Eingeborenen über einen hereinbrach. Das waren jene, die sich ab sechs Uhr morgens selbst nur schreiend voranbewegten. Venedig war immer eine Stadt der Frühaufsteher, auch weil der gesamte Lieferverkehr bis zehn Uhr abgeschlossen sein sollte. Denn dann kamen die Touristen. Vorbei, heute feiern sie nachts und schlafen am Tage.

Darum hat Venedig keine stillen Nächte mehr. Die Venezianer wohnen inzwischen fast alle in Mestre auf dem Festland, da, wo es Autos und McDonalds, aber auch Schulen und Sportplätze gibt. Das alte Venedig aber ist ein Objekt der Spekulation geworden. Am schlimmsten sei, sagen die letzten der Dauerbewohner der Altstadt, dass Venedig durch eine Gebietsreform mit Mestre vereinigt wurde – und da wohnen nun mal viel mehr Menschen und die bestimmen dann bei Wahlen über die Zukunft des Centro Storico, wie man das eigentliche Venedig inzwischen nennt. Auch der jetzige Bürgermeister des Großraums Venedig wohnt nicht mehr in Venedig. Was also will man da noch erwarten?

Früher war Dorsoduro, ebenso wie der Prenzlauer Berg, ein Arbeiterbezirk. Direkt am Hafen gelegen, am Rande der Stadt. Nun sind die großen Kreuzfahrtschiffe weg, der erstaunliche Erfolg einer Bürgerbewegung gegen die Kreuzfahrtindustrie. Gespenstisch leer liegt Anlegestelle neben Anlegestelle. Man könnte aufatmen. Aber die Stadtregierung rechnet hektisch nach, was ihr dadurch an Einnahmen entgeht und sucht nach Ersatz. Im Januar soll das – immer wieder verschobene – »Eintrittsgeld« für Tagesbesucher kommen, man spricht von fünf bis zehn Euro. Dann ist es vorbei mit spontanen Besuchen der Stadt, man soll sich vorab online registrieren lassen, Tickets buchen für einen Tag in Venedig! Und die einzelne Vaporetto-Fahrt, also ein Bus-Ticket für die Wasserstadt, soll dann nicht mehr 7,50 Euro, sondern 9,50 Euro kosten!

Vielleicht führt diese dreiste Touristenabzocke aber auch zu anderen als den erwarteten Resultaten. Dass Venedig seine Anziehungskraft verlieren und niemand mehr hierherkommen könnte, geht offenbar über den Horizont der Ausverkäufer. Doch Orte, die bloß noch Kulisse sind, unterliegen widerstandlos dem Marktgesetz – wer anderswo bessere Party-Clubs anbietet, zieht die Konsumenten mit sich, egal wohin.

Im Schatten von Luxus-Immobilienhandel und Fremdenabzocke stirbt Venedig mit jedem Tag weiter. Der Wohnungsleerstand in den als Ferienwohnungen ungeeigneten dunklen Gassen, die Venedig ausmachen, ist enorm. Feuchtigkeit zerstört rapide die Fundamente, die in Jahrhunderten einiges ausgehalten haben. Statt Touristenabschreckung ein Ansiedlungsprogramm für neue Bewohner, das bräuchte Venedig.

Um 1900 befand sich hier in Dorsoduro, am Canal della Giudecca, ein großes Holzlager. Darum heißt das Ufer auch Zattere, auf Deutsch Flöße. Erstaunlich, dass es hierher – gleich bei mir um die Ecke – ins Haus Nr. 1471 Rainer Maria Rilke verschlug. Er logierte sonst bevorzugt in Grandhotels (die er sich nicht leisten konnte) und Schlössern, wie das unweit in Duino, wohin man ihn einlud. In Paris hatte ihm ein Bekannter die Pension der Schwestern Romanelli mit Blick auf den Giudecca-Kanal empfohlen. Heute scheint das Gebäude ungenutzt und trotz eines Namensschildes leerstehend.

Kein Hinweis auf Rilke findet sich am Gebäude, der sich bei seiner Ankunft in dieser wenig glamourösen Gegend am 19. November 1907 entsetzt zeigte. Venedig habe am Zattere etwas »von der Trostlosigkeit eines ungeheizten Zimmers, in dem man sich zu wärmen hoffte«. Aber dann gefällt es ihm doch von Tag zu Tag besser, sogar eine Reihe von Venedig-Gedichten entstehen. Das liegt an der erwachenden inneren Hitze, die einen Namen hat: Mimi Romanelli, eine der beiden noch jungen Inhaberinnen der Pension. Eine Pianistin, Busoni-Schülerin gar, der Rilke seine Liebe gesteht. (»Ich erfahre Ihre Schönheit wie ein Kind, dem man eine schöne Geschichte erzählt.«) Noch lange nachdem er weitergezogen ist, schreibt sie ihm traurig sehnsuchtsvolle Briefe, die Rilke mehr und mehr in Verlegenheit setzen.

Erstaunlicherweise wohnt er fünf Jahre später wieder hier am Zattere, nicht bei den Romanellis, sondern in einem möblierten Zimmer an der Ponte Calcina. Rilke weiß, an wem es liegt, dass er hier so ärmlich wohnen muss: »Meine Hoffnung, in einem Palazzo etwas zu finden, ging täglich zurück, die Amerikaner haben einen Maßstab der Preise eingeführt, an den nichts mehr heranreicht als sie selbst.«

Nur einige Häuser weiter befindet sich das Haus, in dem der Komponist Luigo Nono geboren wurde. Das Zattere-Ufer inspirierte ihn zu höchst avantgardistischen Kompositionen – für die er auch Rilke-Texte verwendete, deren Worte er atonal verwehen ließ.

Ich erinnere mich an einen berühmt-berüchtigten italienischen Fernsehmoderator, der Luigo Nono interviewte. Dieser war aus den USA angereist. Nono sagte etwas pathetisch, er fahre jetzt wieder zurück nach Amerika, aber seine Musik bleibe hier. Darauf konterte der Moderator, der wirklich sein Fach beherrschte, ihm wäre es lieber, er bliebe hier und seine Musik reiste ab.

Nono lachte über diese Unverschämtheit, die – um eine Winzigkeit gedreht – seiner Idee der »Wind-Musik« durchaus nahekam.

Die Venedig-Kolumnen der letzten Jahre von Gunnar Decker sind unter dem Titel »Venedig für Skeptiker« mit Illustrationen von Dieter Goltzsche im quartus-Verlag erschienen.

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