Einer trage des anderen Last

Der Episodenfilm »Evolution« von Kornél Mundruczó folgt über drei Generationen dem Schicksal einer jüdischen Familie von 1945 bis heute

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein heftiger Disput, ausgetragen von zwei großartigen ungarischen Schauspielerinnen, Lili Monori als Éva und der Burgtheaterschauspielerin Annamária Láng als ihre Tochter Léna
Ein heftiger Disput, ausgetragen von zwei großartigen ungarischen Schauspielerinnen, Lili Monori als Éva und der Burgtheaterschauspielerin Annamária Láng als ihre Tochter Léna

Dieser Film hat nicht die Absicht, es dem Zuschauer leicht zu machen. Ein Episodenfilm über den Holocaust und seine bis in unsere Gegenwart reichenden Spuren? Nein, wohl eher ein Triptychon über die Last der Geschichte, die längst nicht weicht, wenn das systematische Morden vorbei ist.

Drei Zeitebenen, drei Namen. »Éva«, so der erste. Fast will man an den biblischen Schöpfungsmythos denken, aber dies hier ist eher die Hölle, oder war es bis eben. Gesprochen wird nicht. Männer in einem fast dunklen Raum verschütten erst Reinigungsmittel, dann Wasser. Sie scheuern den dunklen Boden, die Wände. Verstreuen Kalk. Einige Drahtgestelle, deren Funktion man nicht sofort begreift, befinden sich ebenfalls im Raum. Ein Keller oder eine Art Bunker? Dieser Raum macht Angst, scheint selbst von Angst erfüllt.

Dann ziehen die Männer aus Mauerritzen einige Büschel. Haare? Es werden immer mehr. Wie dicke Taue liegen sie am Boden, und aus Gullys, deren Deckel die Männer anheben, kommt immer mehr durchfeuchtetes Haar. Ganze Ballen füllen schließlich den Boden. Dann eine Kinderstimme. Schreien – ein kleines Kind, das die Männer aus einem der Gullys herausziehen und es aus dem Raum herausbringen ans Tageslicht. Jetzt erkennen wir die Szenerie: Wir sind in einem Lager voller Soldaten der Roten Armee. Das Lager heißt Auschwitz, und der dunkle Raum ist eine Gaskammer.

Éva, das Kind aus dem Gully im Boden der Gaskammer, hat überlebt. Diese 15 ersten Minuten von »Evolution« lässt uns Regisseur Kornél Mondruczó wie ein Exerzitium erleben. Das Böse, ausgetrieben von einem Kind. Ein schwieriges Beginnen für einen Film mitten in der Gaskammer von Auschwitz – wie schnell kann dies misslingen, unangemessen wirken dem realen Schrecken gegenüber, für den es keine Bilder gibt. Naturalismus kann hier nur falsch sein – und das aus der Hölle befreite Kind ist vor allem eins: ein Symbol, Teil einer Parabel. Diese verlangt nach einer überzeugenden Ästhetik. Denn nichts wäre schlimmer als Auschwitz-Kitsch.

Das schwer Machbare gelingt. Dieser Beginn, der sich aus der Klaustrophobie des Dunkels ins Offene des Lichts hinaufarbeitet, ist von großer poetischer Kraft. Gerade das Ungewisse, das auf surreale Weise zur schrecklichen Gewissheit wird und dann durch das überlebende Kind wieder kontrastiert wird, erzeugt eine ungeheure Intensität.

Im zweiten Teil »Léna« sehen wir Éva als Frau Ende 70. Etwas dement bereits, aber so klar den eigenen Anfängen gegenüber, wie es der surreale Ansatz verlangt, mit dem Mundruczó hier der Wahrheit nachspürt. »Ich wollte keine Überlebende sein, ich wollte leben«, sagt sie. Vor allem ein Mensch und kein Symbol sein. Aber die Gewichte des Geschehenen wiegen viel zu schwer, sind nicht zu tragen.

Sie soll einen Preis erhalten und ihre Tochter Lena kommt, um sie zu begleiten? »Einen Preis?!«, so Éva, das sei absurd, ausgerechnet von den Deutschen. »Sie benutzen mich und sie beschmutzen mich damit.«

Léna sucht nach der Geburtsurkunde ihrer Mutter, mit der sie ihren Sohn auf eine jüdische Schule in Berlin schicken kann, denn das Judentum muss amtlich beglaubigt sein, zumal, wenn sie eine Entschädigung beantragen will. Sie findet fünf Geburtsurkunden der Mutter, alle gefälscht. Natürlich, sagt die Mutter, jüdisch sein war tödlich. Aber jetzt muss das jüdische Herkommen bewiesen werden. Die Dialoge von Mutter und Tochter über das Geschehene und jüdische Identität heute forcieren die Widersprüche zwischen den Generationen, anstatt sie zu glätten. Das macht diesen zweiten Teil aus: Ein heftiger Disput, ausgetragen von zwei großartigen ungarischen Schauspielerinnen, Lili Monori als Éva und der Burgtheaterschauspielerin Annamária Láng als ihre Tochter Léna. Ein filmisches Kammerspiel, das in all seiner Intimität doch zum philosophischen Exkurs über die tief widersprüchliche jüdische Existenz im Spannungsfeld zwischen geschichtlichem Herkommen und Gegenwart wird. Erlittenes Trauma steht gegen Traum von einer unbeschwerten Zukunft. Es bleibt widersprüchlich, aber auf verschiedene Weise.

Nach diesem schauspielerischen Höhepunkt, der die Thematisierung geschichtlicher, nationaler und religiöser Identität auf die Diskursspitze treibt, lässt sich schwer noch ein weiterer Teil vorstellen. Doch dieser folgt mit »Jonás«, das ist Lénas Sohn, der in Berlin zur Schule geht, sich von seiner alleinerziehenden Mutter selten verstanden fühlt und mit antisemitischen Anfeindungen seiner Mitschüler zu kämpfen hat. Er verliebt sich in ein muslimisches Mädchen – ein zartes Band scheint zwischen ihnen geknüpft, über dessen Haltbarkeit man in dieser Episode wenig erfährt.

Sie vermag nicht an die Intensität der ersten beiden anzuschließen, auch weil dem Regisseur hier offenbar keine Symbolik zur Verfügung steht. Die surreale Ebene wird nicht gesucht und die Handlung rutscht sogleich in eine allzu bemüht wirkende Fernsehästhetik ab. Aber nicht das erstaunt, sondern vielmehr, dass es Mundruczó in den ersten beiden Teilen so eindrucksvoll-konsequent gelang, gerade diese zu vermeiden.

»Evolution«: Deutschland / Ungarn 2021. Regie: Kornél Mundruczó. Mit: Padmé Hamdemir, Goya Rego, Lili Monori, Annamária Láng. 100 Minuten. Start: 25. August.

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