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Das Ende der Welt

Feuerlands indigene Bevölkerung wurde gnadenlos verfolgt. Ihre Ethnien gibt es heute nicht mehr

  • Michael Marek
  • Lesedauer: 9 Min.
Schneebedeckte Berge umrahmen Feuerlands Hauptstadt Ushuaia an der Südspitze Südamerikas.
Schneebedeckte Berge umrahmen Feuerlands Hauptstadt Ushuaia an der Südspitze Südamerikas.

Blauer Himmel und 18 Grad. Die Natur gibt sich ausnahmsweise freundlich in Ushuaia am südlichsten Zipfel Argentiniens. Der Wetterbericht hat hier noch seine Berechtigung: Wind, Eisstürme, Hagel, Sonne, Regen – die Jahreszeiten vermählen sich im »Land des Feuers« an einem einzigen Tag. Das sagen seine Bewohner über den einsamen Landstrich, der zu zwei Dritteln argentinisches Gebiet ist, zu einem Drittel chilenisches. An den Küsten des Archipels zwischen Magellanstraße und Kap Hoorn lebte jahrtausendelang eine indigene Bevölkerung – Seenomaden und genügsame Menschen: Überlebenskünstler in einer eisigen Umwelt mit Gletschern und Regenwäldern.

1519 war es der Portugiese Fernão de Magalhães, der als Generalkapitän im Dienst der spanischen Krone mit einer Schiffsflotte zu einer Weltumsegelung aufbrach. Im Oktober 1520 fuhr seine Flotte die Atlantikküste Südamerikas entlang. Ein schwerer Sturm trieb am 1. November zwei seiner Schiffe in eine Bucht, die sich im weiteren Verlauf als Durchfahrt zum Pazifischen Ozean erwies. Zu seinen Ehren wurde sie später vom spanischen König in Magellan-Meerenge getauft. Magalhães und seine Besatzung bekamen zwar keine Menschen zu Gesicht, aber am südlichen Ufer der Meerenge entdecken sie nachts viele Feuer und nannten das Gebiet deshalb Feuerland.

In diesem Labyrinth von Inseln lebten einst fünf indigene Stämme: die Kawéskar, Selk’nam, Aónikenk, Haush und die Yagán. Bis auf die Aónikenk waren sie allesamt Seefahrer, die durch die zerklüftete Landschaft zogen. Heute gibt es die indigenen Stämme nicht mehr. Sie wurden bekämpft – von skrupellosen weißen Eroberern und Kolonialisten. In diesem Jahr ist die letzte direkte Yagán-Nachfahrin im Alter von 93 Jahren gestorben: Cristina Calderón, die von der chilenischen Regierung als »lebender menschlicher Schatz« anerkannt wurde.

Mit unserem Expeditionsschiff geht es zur Wulaia-Bucht auf der Insel Navarino. Dort befand sich einst die größte Siedlung der Yágan. Zu diesem geschichtsträchtigen Ort geht es in schwarzen motorbetriebenen Schlauchbooten übers eiskalte Wasser.

Die Yágan waren Nomaden des Wassers. »Sie lebten von Meeresfrüchten, jagten Seelöwen und rieben sich zum Schutz vor der Kälte mit dem Fett dieser Tiere ein«, erklärt Expeditionsleiter Marcelo Gallo. Anthropologen schätzen, dass die indigenen Völker vor etwa 10 000 Jahren nach Patagonien und Feuerland kamen.

Die indigenen Völker Feuerlands und Patagoniens bauten keine Städte, keine Denkmäler, sie hinterließen keine Töpfereien, keine geschriebene Sprache. »Eine Religion, wie wir sie heute verstehen und sich seit der Antike entwickelt hat, ist diesen ethnischen Gruppen unbekannt«, erklärt Sergio Lausic Glasinovic. Der Historiker arbeitet an der chilenischen Universidad de Magallanes in Punta Arenas: »Sie haben vielmehr einen animistischen Glauben, der von der Allbeseeltheit der Natur ausgeht und von spirituellen Wesenheiten geprägt ist. Diese sind Teil der Natur, zeigen sich in den Sternen oder den Klimaphänomenen. Es handelt sich um kleine Gesellschaften, organisiert nach familiären Zugehörigkeiten, die als Nomaden je nach Nahrungsbedarf umherziehen.«

Alle Ethnien kannten ein höchstes Wesen, eine Art Schöpfergott, den sie Watauinewa nannten, was in der Sprache der Yagán übersetzt »der Hohe Herr dort oben« bedeutet. Er hatte selbst keinen eigenen Kult, »sondern die Welt und der Himmel waren von Geistern bewohnt, diese konnten gutartig wie bösartig sein«, sagt Joachim Piepke, emeritierter Professor für Systematische Theologie und Ethnologie: »Die Religion der Indigenen war eine des Gebetes, Bittens und Klagens.«

Piepke arbeitete viele Jahre in São Paulo als Seelsorger in den Armenvierteln; seit 1962 ist er Mitglied der Gesellschaft des göttlichen Wortes, einer Ordensgemeinschaft der römisch-katholischen Kirche: »Die Feuerländer hatten genauso wie wir großes Schmerzempfinden beim Tod ihrer Verwandten, und sie glaubten an die Existenz des Weiterlebens einer Geistseele über den Tod hinaus.« Für die Selk’nam waren die Sterne die Geister ihrer Vorfahren, und sie fühlten sich dem Universum nahe. Sie glaubten, dass alles lebendig sei – ein Stein ebenso wie das Wasser.

Die Feuerländer waren Meister darin, sich den Umweltbedingungen anzupassen: Trotz polaren Wetters trugen sie kaum Kleidung; ihre Körpertemperatur war vermutlich höher als die unsrige. Das sei nur eine Theorie, schränkt Expeditionsleiter Gallo ein. Eine andere besage, »dass die Yagán eine dickere Haut als wir besaßen und ihr Anteil an Körperfett größer war. Sie hatten sich perfekt ihrer Umwelt angepasst.« Dafür benötigten die indigenen Völker Tausende von Jahren. Gallo weist darauf hin, dass es sich hier um eine Umgebung handelt, die nicht für Menschen zum Leben geschaffen ist. Beinahe nackt sei es für uns heute unmöglich, in dieser Landschaft zu überleben.

Sie bauten keine Städte, keine Denkmäler, aber sie konnten zeichnen und bemalten ihre Körper wie die Selk’nam mit Strichen, Kreisen und Punkten, wie auf alten Fotos zu sehen ist, die Marcelo Gallo mitgebracht hat. Der Chilene zeigt seinen Unterarm: Zum Andenken an die Selk’nam hat er sich ein Tattoo stechen lassen »aus Respekt vor ihrer Kultur«.

Die genaue Bedeutung ihrer Zeichnungen ist bis heute nicht geklärt, sagt Historiker Lausic Glasinovic, die Körperbemalung werde zum Teil so interpretiert: »Sie ist eine Art der Bekleidung und Nacktheit, aber auch eine Form der Körperhygiene, um sich zu waschen und von Parasiten zu beseitigen. Und schließlich ist die Körpermalerei als Teil der sozialen Identifikation und Angehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe zu verstehen. Besonders bei der Partnerwahl, um zu enge verwandtschaftliche Beziehungen zu vermeiden.«

Wissenschaftler vermuten, dass die Yagán von konkurrierenden Stämmen aus dem Norden in den äußersten Süden Feuerlands gedrängt wurden – vermutlich von den Aónikenk oder Patagones, den »Großfüßen«, wie sie von Magalhães und seinem Chronisten Antonio Pigafetta bezeichnet wurden.

Die Yagán lebten abgeschieden und konnten ihre Lebensweise als Seenomaden bis zum Eintreffen der Europäer bewahren. Wissenschaftler schätzen, dass es im 19. Jahrhundert etwa 8000 Menschen mit 300 Kanus gab, die den riesigen Archipel Feuerlands befuhren. Zwischen 1918 und 1924 unternahm der Steyler Missionar und Anthropologe Martin Gusinde vier Forschungsreisen nach Feuerland. Er lebte bei den verschiedenen Stämmen, lernte ihre Sprachen, dokumentierte das Leben im Archipel, machte Fotos, nahm ihre Gesänge auf kratzigen Schellack-Platten auf und hinterließ ein vierbändiges Werk. Seine Arbeit gilt als die beste, die je über die indigene Bevölkerung geschrieben wurde. Im südlichsten Ort der Welt, in Puerto Williams auf der Isla Navarino, erinnert heute ein Museum an ihn.

Gusindes Fotos zeigen verängstigte Mitglieder des Yagán-Stammes, die von den Weißen verfolgt, bekehrt und ermordet wurden. »Bevor Gusinde nach Feuerland kam, gab es ungefähr 2500 Yagán«, so Piepke, »später zählte man noch ganze 50 Überlebende dieses Stammes.« Ähnlich waren die Zahlen auch bei den Selk‹nam auf der Isla Grande, der großen Feuerlandinsel. »Dort lebten um 1900 herum vermutlich um die 4000 Indigene. Als Gusinde dorthin kam, waren es gerade einmal 279 Menschen. Ein richtiges Massensterben hatte eingesetzt.«

Auch der englische Kapitän Robert FitzRoy war Anfang des 19. Jahrhunderts auf seiner ersten Forschungsexpedition in Feuerland vor Anker gegangen. FitzRoy hatte den Auftrag, das Küstenprofil am Ende der Welt für die britische Krone festzuhalten. Er fertigte neue Karten an, die 100 Jahre lang benutzt wurden.

FitzRoy hatte die Idee, vier Männer des Yagán-Stammes nach England mitzunehmen und sie zu »zivilisierten Menschen« zu machen. Auch »O‹run-del‹lico« ging an Bord im Tausch für einen Knopf. Deshalb nannten die Engländer ihn verächtlich Jemmy Button. Über ein Jahr lang lebte der Verschleppte in England, reiste von der Steinzeit ins Zentrum der industriellen Revolution.

Nachdem man aus Jemmy Button einen »Gentleman« gemacht hatte, brachte FitzRoy ihn auf seiner zweiten Expeditionsreise zurück nach Feuerland. Mit an Bord der HMS Beagle: Charles Darwin, der half, die Gegend zu erforschen, die Indigenen zu studieren und der hier seine Menschlichkeit verlor: »Die verächtlichsten und elendsten Geschöpfe, die ich jemals angetroffen habe«, so bezeichnete der Gründer der Evolutionstheorie die Yagán. »Wenn man solche Menschen sieht, glaubt man kaum, dass sie Mitmenschen und Bewohner derselben Erde sind.«

Als er wieder in seiner Heimat war, zog Jemmy Button seine englische Kleidung aus. Er sprach halb Englisch, halb seine eigene Sprache. Er ließ sich die Haare wieder lang wachsen, wurde aber nie wieder derselbe Mensch, er blieb ein Fremder im eigenen Land. »Das ist eine tragische Seite der europäischen Kolonialmentalität«, sagt Piepke. »Man wollte einen sogenannten Wilden ausstellen. Man hat ja damals die indigene Bevölkerung als eine Art Übergang vom Tier zum Menschen gesehen und sie wie exotische Tiere behandelt.«

Dafür verantwortlich waren nicht nur katholische Missionare, erklärt Piepke. »Vor ihnen kamen die Anglikaner der South American Missionary Society. Von den katholischen Missionaren waren es die Salesianer, die dort wirkten. Das Problem dieser Gesellschaften war, dass sie die sogenannten Wilden umerziehen wollten. Und diese Umerziehung schloss ein, dass sie deren ganzes Weltbild und Kultur auszuradieren versuchten, um das christliche Weltbild einzupflanzen.«

1883 kamen die Siedler, die Gold- und Glückssucher, die Militärs, die Polizei und die Viehzüchter. Das war der Anfang vom Ende für die Völker Feuerlands und Patagoniens. Nachdem sie Jahrhunderte mit Wasser und Sternen verbunden waren, stürzte nun ihre Welt zusammen. Die chilenische Regierung unterstützte die Viehzüchter aus wirtschaftlichem Eigeninteresse. Man beschuldigte die Ureinwohner des notorischen Viehdiebstahls, nannte sie barbarisch und ließ sie von Kopfgeldjägern verfolgen. Die Schafbarone zahlten ein Pfund für einen Hoden und eine weibliche Brust, zehn Schilling für ein Kinderohr. Keines dieser Blutbäder führte je zur Verurteilung der Täter. Viele Indigene flüchteten auf die weit entfernte Dawson-Insel, wo sich die Hauptmission befand. Man nahm ihnen dort ihren Glauben, ihre Sprache und ihre Kanus. Im »Tausch« dafür erhielten sie Kleidung, die mit den Bakterien der Zivilisation verseucht war. Die Yagán kannten die Krankheitserreger nicht, folglich hatten sie auch keine Immunabwehr dagegen. Die meisten wurden krank und starben.

150 Jahre später ist von alledem nichts zu entdecken. Die feuerländische Stille, die Schönheit der Natur mit ihren schneebedeckten Bergen und subantarktischen Regenwäldern, die den südpolaren Stürmen trotzen, und der Abgrund kolonialer Geschichte machen sprachlos.

Die Expedition endet in Punta Arenas, der größten Stadt vor der Antarktis, wie die Chilenen sagen. Im Zentrum gibt es ein Denkmal zu Ehren von Fernão de Magalhães. Von oben blickt der portugiesische Generalkapitän in die Ferne: machtbewusst mit einem Bein auf einer Kanone und den Kopf triumphierend in die Höhe gereckt. Ihm zu Füßen kauern rechts und links zwei besiegte Selk‹nam. Nicht demütig, aber mit gesenktem Blick.

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