Altersmedizin möglichst in der Nähe

Geriater fordern einheitliche Bedarfsplanung nach neuem Konzept

Neuigkeiten aus der Geriatrie zeigen sich eher regional: Es werden Kliniken für Altersmedizin neu eröffnet, entsprechende Abteilungen ziehen um, Stationen werden geschlossen oder Neubauten errichtet. Diese Aktivitäten sind bei bundesweiter Betrachtung schwer wahrnehmbar, aber es ist eine Fehleinschätzung, hier nur ein kleines medizinisches Fach zu sehen. Zwar gibt es nur in wenigen Bundesländern überhaupt einen Abschluss als Facharzt für Geriatrie, aber die Zahl der Ärzte mit einer geriatrischen Zusatzweiterbildung steigt nach Angaben des Bundesverbandes Geriatrie e.V. (BVG). Aktuell seien bis zu 4000 Altersmediziner aktiv, viele weitere befänden sich in der Ausbildung. 

Was auf jeden Fall auch wachse, so BVG-Vorstand Michael Musolf am Mittwoch in Berlin, ist der Versorgungsbedarf. Die Patienten, die betreut werden sollen, haben gleichzeitig mehrere behandlungsbedürftige Erkrankungen, es liegt eine sogenannte geriatrietypische Multimorbidität vor, und sie sind überwiegend 70 Jahre und älter. Bei Über-80-Jährigen kommt hinzu, dass sie besonders vulnerabel sind. »Hier häufen sich die Komplikationen, die Behandlung dauert länger, es gibt mehr bleibende Schäden und die Pflegebedürftigkeit wächst», erläutert Musolf, der als Internist an einem kirchlichen Krankenhaus in Hamburg tätig ist. Der wachsende Bedarf in diesem Bereich ergibt sich aus den geburtenstarken Jahrgängen der Babyboomer. Offenbar wächst auch die Komplexität der Einzelfälle. »Der Fortschritt in der Medizin eröffnet zum Beispiel neue Operationsmöglichkeiten, die früher bei hochaltrigen Patienten noch nicht möglich waren«, so der Hamburger Mediziner. Er schränkt jedoch ein, dass nicht jeder Patient über 65 Jahre ein Geriatriefall ist. 

Für die spezielle Patientengruppe wurde ein neues bundesweites Konzept mit einheitlicher Bedarfsplanung entwickelt. Bislang macht in dem Bereich noch jedes Bundesland, was es will. Die Geriater registrieren steigende Fallzahlen. So waren diese 2019 demografiebedingt gegenüber 2013 bundesweit um 50 000 gewachsen. Eine vierte Auflage des Weißbuchs Geriatrie des BVG wird im Januar erscheinen und ebenfalls einen steigenden Bedarf an entsprechenden Krankenhausbetten konstatieren. Als Planungsgröße schlagen die Experten vor, je 10 000 Einwohner über 70 Jahre 38 geriatrische Betten vorzuhalten. Sie gehen davon aus, dass es sich um eine Form der Grundversorgung handelt, die unverzichtbar ist. In einem Fahrzeitradius von 25 Minuten sollte eine Klinik für Geriatrie erreichbar sein, womit eine wohnortnahe Versorgung möglich wäre. Das ist insbesondere für jenen Teil der Patienten wichtig, die schon kognitiv eingeschränkt sind: Etwa für Demenzerkrankte kann jeder Umgebungswechsel das Wohlbefinden weiter reduzieren. Unter dem Strich müsste etwa jeder Landkreis oder jede kreisfreie Stadt eine Klinik für Geriatrie vorhalten. 

Für die spezifischen Rehabilitationseinrichtungen sehen die Fachleute einen Fahrzeitradius von 45 Minuten vor. Hier wären zwölf Betten je 10 000 Einwohner über 70 Jahre bereitzuhalten. Für dieses Feld wird höherer Finanzbedarf angemeldet, da die Rehabilitation der betagten Menschen personalintensiver sei und zum Beispiel mehr Einzeltherapien erfordere. Schon jetzt sei der Bereich unterfinanziert. 

Verändert und vereinfacht werden sollen laut Fachverband die Strukturen der nichtstationären Versorgung. Aktuell existieren hier mehrere Formen nebeneinander: Tageskliniken, ambulante Reha-Einrichtungen und deren mobile Ergänzung sowie Institutsambulanzen, die von Krankenhäusern bei Versorgungsengpässen im ambulanten Bereich betrieben werden können. All das sollte unter einem Dach zusammengeführt werden, damit flexibler auf den individuellen Patientenbedarf reagiert werden kann. 

Niedergelassenen Ärzten, denen man mit dem Konzept gerade nicht ins Gehege kommen will, stünde dann mit den vorgesehenen ambulanten geriatrischen Zentren ein einheitlicher, einziger Ansprechpartner zur Verfügung. Die Zentren müssten aber aus unterschiedlichen Quellen wie Renten- und Krankenversicherungen finanziert werden. Das ist zwar gesetzlich möglich, wurde in der Praxis bisher aber nur in Modellprojekten realisiert. 

Nicht nur die Politik muss diese Vorschläge aufnehmen und umsetzen. Auch die Kranken- und Rentenkassen müssten sich dafür erwärmen. Das ist nicht völlig unwahrscheinlich, schätzt der BVG ein: Zumindest einige Krankenkassen haben schon realisiert, dass die Geriatrie einiges leisten kann, um Pflegebedürftigkeit zu verhindern. 

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