Die Zeiten des Rohrstocks sind vorbei

Erste wissenschaftliche Langzeitstudie zu Hartz-IV-Sanktionen belegt deren Unsinnigkeit

  • Martin Höfig
  • Lesedauer: 4 Min.
Kultur des Misstrauens, der Einschüchterung und Stigmatisierung: Menschen am Eingang eines Jobcenters
Kultur des Misstrauens, der Einschüchterung und Stigmatisierung: Menschen am Eingang eines Jobcenters

»Was früher euphemistisch körperliche Züchtigung hieß, nennen wir heute beim Namen: Misshandlung. Und so ist auch das Hartz-IV-Sanktionssystem überkommen und gehört überwunden«, sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, am Montag bei der Vorstellung der ersten wissenschaftlichen Langzeitstudie zu Sanktionen im Hartz-IV-System. Diese wurde vom Arbeitslosenhilfeverein »Sanktionsfrei« in Auftrag gegeben und vom Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung Berlin (Ines) durchgeführt. Und unter dem Titel »Hartz Plus (zur Wirkung von Sanktionen – Handlungsempfehlungen für ein künftiges Bürgergeld)« zeigt die Untersuchung eines ganz deutlich: Die Hartz-IV-Sanktionen verfehlen ihre Wirkung. Statt Menschen nachhaltig in Arbeit zu bringen, haben Kürzungen der Grundsicherung bei Verstößen gegen Auflagen der Jobcenter nachweislich einen einschüchternden Effekt und können sogar Krankheiten verursachen.

»Seit der Einführung von Hartz IV vor 17 Jahren hat niemand einen wissenschaftlichen Beleg für die positive Wirkung von Sanktionen erbracht«, betonte Helena Steinhaus, Gründerin von »Sanktionsfrei«. Das sei umso skandalöser, da das Bundesverfassungsgericht mehrmals streng gemahnt habe, die Regelungen von Sanktionen dürften nicht auf Annahmen beruhen. 17 Jahre lang hätten sich die politisch Verantwortlichen jedoch nicht darum geschert.

Mit dem Bürgergeld, das der Bundestag in den kommenden Wochen beschließen und das am 1. Januar 2023 eingeführt werden soll, habe die Politik nun die Chance, einen großen Schritt in Richtung einer sozialeren Gesellschaft zu machen. »Wenn die Ampel-Koalition jetzt aber zu kurz springt, ist es auf Jahre eine vertane Chance«, mahnte Schneider. Das sah am Montag auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, so – wenn auch mit etwas verhalteneren Einlassungen. »Das kürzlich von Bundesarbeitsminister Heil vorgestellte Konzept zum Bürgergeld ist durchaus ein erster Schritt«, so Fratzscher. Er schränkte aber ein: »Eine Anhebung des Satzes zur Grundsicherung um 50 Euro, also um elf Prozent, ist viel zu gering bei einer Inflation von annähernd zehn Prozent.« Hinzu komme, dass Menschen mit geringem Einkommen eine dreifach höhere Inflation zu spüren bekommen als Gutverdiener, so Fratzscher weiter.

Für die Studie haben die Autorinnen und Autoren unter der Leitung der Expertin für Arbeitsmarktpolitik und Gründerin des Ines, Verena Tobsch, drei Jahre lang über 500 Personen siebenmal pro Jahr befragt. Für die Hälfte der Probanden hat der Verein »Sanktionsfrei« für diesen Zeitraum die Kosten von Sanktionen übernommen, somit konnten diese tatsächlich drei Jahre sanktionsfrei leben. »Für uns war überraschend, wie enorm die positive psychische Wirkung der Sanktionsfreiheit bei den Menschen war«, sagte Tobsch. »Erst dadurch wurden sie wieder ermächtigt, ihr Leben wieder auf die Reihe bringen zu wollen und sich entweder ehrenamtlich oder auch in Arbeit zu engagieren.« Den Kontakt mit den Jobcentern im Allgemeinen empfänden die im Rahmen der Studie Befragten dagegen größtenteils als hinderlich statt als unterstützend. Die Menschen fühlten sich von dieser Kultur des Misstrauens eingeschüchtert und stigmatisiert, betonte dann auch Steinhaus von »Sanktionslos«. »Sanktionen bringen Menschen nicht in Arbeit und haben in einer modernen Grundsicherung nichts verloren«, so Steinhaus.

In dieselbe Kerbe schlug auch Ulrich Schneider: »Es geht doch nach eigenen Angaben der Jobcenter lediglich um drei bis vier Prozent der Hartz-IV-Bezieher, die aufgrund von Terminversäumnissen oder Ähnlichem tatsächlich sanktioniert werden. Ansonsten ist das doch eine reine Drohkulisse für die anderen 97 Prozent.« Zudem bräuchte es laut Schneider nur zehn Milliarden Euro für eine wirklich angemessene Anhebung der Grundsicherung auf knapp 700 Euro. »Das ist vergleichsweise wenig und müsste somit zusätzlich für gesellschaftliche Akzeptanz sorgen«, so der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen. »Sanktionen helfen schlicht nicht, nur Hilfe hilft«, so Schneider weiter. »Wir haben die Prügelstrafe abgeschafft und jetzt ist es an der Zeit, dass wir auch diese tiefschwarze Rohrstockpädagogik abschaffen.«

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