Rückkehr der Diplomatie?

Scholz telefonierte mit Putin und Indien fordert gemeinsam mit Frankreich zum Dialog mit Russland auf

Keine Frage: Die Ukraine hat derzeit, wie es von Analysten und Politiker*innen heißt, das Momentum auf ihrer Seite. Mit der für die russischen Truppen wohl überraschenden Offensive im Osten des Landes konnten die ukrainischen Streitkräfte nicht nur besetztes Staatsgebiet zurückerobern. Mit den Erfolgen konnte Kiew seinen ausländischen Unterstützern auch beweisen, dass man es versteht, die milliardenschwere Militärhilfe, das mit Vehemenz eingeforderte westliche Kriegsgerät wirkungsvoll und erfolgreich einzusetzen. Und nicht zuletzt dürften die raschen Gebietsgewinne die Moral der ukrainischen Soldaten und der Bevölkerung vor dem Beginn eines schweren Kriegswinters enorm stärken.

Der Moral dürfte auch der Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in der kürzlich zurückeroberten Stadt Isjum im Osten des Landes dienen. Selenskyj habe zusammen mit Militärvertretern an einer Zeremonie zum Hissen der ukrainischen Flagge in der Stadt teilgenommen, teilte das ukrainische Militär am Mittwoch in Online-Netzwerken mit.

Doch bei all den Erfolgsmeldungen der letzten Tage darf nicht vergessen werden, dass der Krieg für die Ukraine noch lange nicht gewonnen ist und der militärische Weg zur Befreiung des gesamten Landes inklusive Krim, wie sie Selenskj als Ziel ausgegeben hat, sehr lang ist – wenn dies überhaupt zu erreichen ist.

Nach Einschätzung des Generalinspekteurs der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, etwa kann man trotz der jüngsten Erfolge der Ukraine noch nicht von einer umfassenden Gegenoffensive sprechen. »Ich bin mit den Begriffen vorsichtig«, erklärte er gegenüber dem »Focus«. Er sehe allenfalls »Gegenstöße, mit denen man Orte oder einzelne Frontabschnitte zurückgewinnen, aber nicht Russland auf breiter Front zurückdrängen kann«. Die ukrainische Armee agiere zwar »klug, bietet selten eine Breitseite und führt souverän und sehr beweglich die Operationen«. Doch ob die Ukrainer wirklich die Kraft für eine Gegenoffensive hätten, bezweifle er. »Sie bräuchten eine Überlegenheit von mindestens drei zu eins.«

Es stellt sich also durchaus die Frage, ob neben der weiteren militärischen Unterstützung der Ukraine, die derzeit hierzulande heftig diskutiert und von den Regierungsparteien FDP und Grüne sowie der Union energisch eingefordert wird, nach monatelanger Funkstille nicht auch wieder der diplomatische Weg beschritten werden sollte. So scheint es offensichtlich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu sehen, der sich nach wie vor gegen die von seinen Koalitionspartnern verlangten Panzerlieferungen sperrt.

Während am Dienstagabend also Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) bei Markus Lanz im ZDF der Bundesregierung unnötiges Zögern vowarf, erklärte, er selbst hätte Exportgenehmigungen für Marder-Schützenpanzer erteilt, und sich dabei im Einklang mit FDP und Grünen sah, hatte Scholz zu früherer Abendstunde mit Russlands Präsident Wladimir Putin telefoniert. In dem 90-minütigen Gespräch habe Scholz darauf gedrungen, dass es so schnell wie möglich zu einer diplomatischen Lösung des russischen Krieges in der Ukraine komme, die auf einem Waffenstillstand, einem vollständigen Rückzug der russischen Truppen und Achtung der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine basiere, teilte Regierungssprecher Steffen Hebestreit mit.

Der Kreml seinerseits ließ zu dem Telefonat unter anderem verlauten, dass der Präsident den Kanzler auf die »himmelschreienden Verstöße« der Ukrainer gegen das humanitäre Völkerrecht aufmerksam gemacht habe. Die ukrainische Armee beschieße Städte im Donbass und töte dort Zivilisten. Der Bundeskanzler hatte laut Regierungssprecher zuletzt Ende Mai
zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron mit Putin telefoniert. Wie der »Spiegel« am Mittwoch vermeldete, dringt auch Frankreich – zusammen mit Indien – auf Verhandlungen, um den Ukraine-Krieg zu beenden. »Es sollte eine Rückkehr zum Dialog und zur Diplomatie geben«, erklärte demnach der indische Außenminister Subrahmanyam Jaishankar nach einem Treffen mit seiner französischen Amtskollegin Catherine Colonna.

Ob die Diplomatie in den nächsten Wochen und Monaten tatsächlich eine Chance bekommt, zur Beendigung des Krieges beizutragen, erscheint derzeit allerdings mehr als fraglich: Bleibt die Ukraine auf der militärischen Siegerstraße, dürfte einerseits das Interesse in Kiew an Zugeständnissen am Verhandlungstisch eher gering sein. Und auch für Putin, der angesichts der Niederlagen seiner Truppen innenpolitisch unter Druck gerät, scheint das Beenden seines Feldzugs derzeit völlig ausgeschlossen.  Mit Agenturen

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