Her mit dem schönen Leben

Ferienkommunismus trifft auf szenische Künste: Im mecklenburgischen Lärz fand die neunte Ausgabe des at.tension-Festivals statt

Straßentheater aus Frankreich: Die Gruppe Adhok auf der at.tension
Straßentheater aus Frankreich: Die Gruppe Adhok auf der at.tension

Es ist keine neue Erkenntnis: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.« Seit Theodor W. Adorno uns das mit seiner Schrift »Minima Moralia« eingeflüstert hat, schallt uns dieser Satz wieder und wieder als Ermahnung entgegen. Das Bedürfnis bleibt aber bestehen. Im Hier und Jetzt den gesellschaftlichen Realitäten entfliehen und ein anderes Zusammenleben ausprobieren. Darf man sich das erlauben?

Mit Dankbarkeit blickt man an den Müritzsee, wo sich auf dem ehemaligen Militärflugplatz in Lärz seit 1997 etwas ereignet, das die Veranstalter »Ferienkommunismus« nennen. Hier findet jährlich das Musikfestival Fusion statt, das Freunde der elektronischen Musik anzieht zum Feiern unter Bedingungen sonst ungekannter Toleranz. Das theatrale Begleitprogramm des mehrtägigen Spektakels erfreute sich so großer Beliebtheit, dass es sich zu einem eigenen biennalen Festival auswuchs, das nun zum neunten Mal stattfindet: die at.tension.

Nach einem Corona-Aussetzer 2021 wurden in diesem Jahr wieder vier Septembertage mit einem reichen Programm aus allen Spielarten der szenischen Künste gefüllt. Insgesamt stehen mehr als 80 Produktionen auf dem Spielplan, denen hier nicht alle Gäste vorausschauend begegnen, sondern eher einem Zufallsprinzip folgend. Überraschungen sind ein rares Gut in der Kunst, hier sind sie an vielen Ecken zu haben.

9500 Besucherinnen und Besucher hat die at.tension in diesem Jahr angezogen. Viele davon haben, wortwörtlich, ihre Zelte aufgeschlagen zwischen Meyerhold-Straße und Albert-Hofmann-Ring. Festival heißt immer auch: Ausnahmezustand. Und hier findet sich plötzlich, zwischen »Shower Tower« und Hängematte, ein gutgelaunter Kollektivgeist wieder, der aber auch jedem Konformismus zuwiderläuft. Der Weg zu den Bühnen, die hier unter anderem Luftschloss, Datscha und Grand Palais heißen, erweckt dann auch den Eindruck, als handele es sich um den Aufmarsch der buntgekleideten Individualisten. Hipster-Chic trifft Camping-Pragmatismus.

Betritt man ein beliebiges Theater in Deutschland, steht dem Publikum die Furcht vor den unerfüllten Erwartungen allzu oft schon in die mürrischen Gesichter geschrieben. In Lärz wandelt man unbeschwert zwischen den Spektakeln. Wenn etwas zu leicht oder zu schwer, zu abgründig oder zu gefällig ist, geht man nur wenige Meter zu einem der weiteren Zelte oder zu den beeindruckend ausgebauten Hangars, um sich von anderem einnehmen zu lassen. Und wer der Kunst zwischen Zirkus und Akrobatik, Straßentheater und performativer Installation für eine Weile überdrüssig wird, beobachtet die vorbeirauschenden Menschenmassen, tanzt zur Live-Musik, ergattert einen Cider oder lässt sich von freundlichen Fremden in ein Gespräch verwickeln. Wem das wiederum zu unambitioniert ist, der findet vielleicht sein Glück beim Bieryoga. Zwischen Rausch und seelischer Reinigung ist es vielleicht stellvertretend für den Ansatz des gesamten Festivals.

In der beschaulichen Freiluftarena, Tarmac bezeichnet und neben der ehemaligen Landebahn gelegen, wartete etwa Snatch Circus, ein feministischer Punk-Zirkus aus Belfast, mit einer ausgesprochen humorvollen akrobatischen Auseinandersetzung mit Haushaltsgeräten auf. Küche wie Unglück müssen zerschlagen sein. Das Duo besteht aus der ehemaligen australischen Meisterin im Axtwerfen und einer Künstlerin, die nach eigener Aussage erste akrobatische Erfahrungen beim Wegrennen vor der Polizei bei nordirischen Unruhen erlernte. Das erreicht, zugegeben, intellektuell nicht das Niveau von Simone de Beauvoir. Aber mit einem Feminismus, der so schlagkräftig daherkommt, kann man nur sympathisieren.

Die aus Marseille kommende Compagnie La Colombe enragée verfolgt mit ihrer Tanzperformance »Cafeine« einen anderen Ansatz: Vier Frauen zeigen die Realität marginalisierter Frauen und finden eine Übersetzung dafür, wie sie um einen Raum auf der Straße, aber auch um ihre Stimme kämpfen müssen. Subtile Bilder für Polizeigewalt und täglichen Machismo finden sie, und langsam erwächst aus der Klage Wut und aus der Wut so etwas wie Ermächtigung.

Ein deutlicher politischer Anspruch findet sich aber keineswegs in jeder der Darbietungen. Einige Aufführungen sind reine Lust am Effekt, mitunter auch nur schöne Dekoration. Wer sich hier nicht wiederfindet, kann bei einem der zahlreichen Workshops sein Glück versuchen: Vorträge zu Adbusting, zur Arbeit von Geheimdiensten und zu Lobbyismus bereichern das Programm.

Dieses Nebeneinander von L’art pour l’art und buntem Agitprop, von politischem Anspruch und Sehnsucht nach heiler Welt, von Hochkultur und leichter Unterhaltung muss man nicht als Nachteil verstehen. An kaum einem anderen Ort fällt es so leicht, diese Widersprüche schulterzuckend so zu akzeptieren, wie sie vor uns aufeinanderprallen. Woran das liegt? Vielleicht daran, dass der Mensch, allen Erfahrungswerten zum Trotz, doch ein harmoniebedürftiges Wesen ist – zumindest für ein langes Wochenende. Und daran, dass man für die großen gesellschaftlichen Widersprüche nicht blind wird, arbeitet auch dieses Festival auf seine Art und Weise mit.

Am Ende steht wie immer dieselbe Frage: Sind die Ferien etwa schon vorbei? Schade. Da bleibt nur das Warten auf den noch zu erwartenden Kommunismus. Vielleicht bei der zehnten at.tension im September 2024. Oder wer weiß, welche Erhebungen uns bis dahin noch blühen.

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