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Queere Visionen aus dem Pop-Wunderland

Gute Musik macht die Welt besser. Für Nadia Shehadeh sind das die queeren Popikonen Brandi Carlile, Ethel Cain und Phoebe Bridgers

Phoebe Bridgers bei einem Konzert
Phoebe Bridgers bei einem Konzert

Obwohl das Jahr noch lange nicht zu Ende ist, möchte ich trotzdem jetzt schon ein steiles Pop-Fazit für 2022 heraushauen: Während die Weltlage nach wie vor eher bescheiden ist, kam die einzige Hoffnung für mich aus dem musikalischen Lager. Neben Beyoncé, die mit ihrem Magnus Opum »Renaissance« auf einem ganz eigenen Thron in meinem Herzen sitzt, gab es genau drei Künstlerinnen, die ich mittlerweile in einer Art heiligen Dreifaltigkeit zu meinen persönlichen Seelenretterinnen erklärt habe. Die Rede ist von: Brandi Carlile, Ethel Cain und Phoebe Bridgers. Die eine ist lesbisch, die andere trans, die dritte bisexuell – und jede von ihnen bricht in diesem Jahr so ziemlich jeden Rekord, der für Musikerinnen existiert.

Nadia Shehadeh
Nadia Shehadeh ist Soziologin und Autorin, wohnt in Bielefeld und lebt für Live-Musik, Pop-Absurditäten und Deko-Ramsch. Seit 2019 ist sie Kolumnistin des "Missy Magazine", außerdem seit vielen Jahren Mitbetreiberin des Blogs Mädchenmannschaft. Für "nd" schreibt sie die monatliche Kolumne "Pop-Richtfest".

Und nicht nur für mich, sondern auch für ihre immens großen (beziehungsweise stetig wachsenden) Fan-Scharen haben Carlile, Cain und Bridgers eine enorme Bedeutung – und in diesem Jahr außerdem bisher unfassbar viel Erfolg.

Wer nicht im Bilde ist: Brandi Carlile, die US-amerikanische Singer-Songwriterin und sechsfache Grammy-Gewinnerin, schreibt in diesem Jahr – ohne dass ich übertreiben will – einfach ganz nonchalant Musikgeschichte am laufenden Band. Für das Newport Folk Festival im Juli konnte sie Folk-Veteranin Joni Mitchell zurück auf die Bühne holen. Damit sorgte sie für ein Musikereignis, das nicht nur weltweit gefeiert wurde, sondern auch als historisches Ereignis in die Annalen der Pop- und Rockmusik-Historie eingehen wird. Dazwischen liefert sie seit Jahresbeginn am laufenden Band ab – was man eingehend verfolgen kann, wenn man sich an ihre Social-Media-Präsenzen dranhängt. Als unfassbar kluge Laudatorin bei den Americana-Awards, bei ihrem Live-Konzert im legendären Red Rocks Amphitheater in Colorado, als pro-aktive Kollaborateurin von Weltstars wie Alicia Keys erlebt man sie da, und man ahnt: An Carlile wird man in den nächsten Jahren nicht mehr vorbeikommen, wenn man sich ernsthaft für gute Musik interessiert.

Wer einmal in ihrem Plattenkatalog festhängt, der wird sich auch ihren politischen Botschaften nicht entziehen können. Carlile äußert sich immer wieder anti-sexistisch und anti-rassistisch. Und das mit einer Unbedingtheit, dass man tatsächlich irgendwann glaubt, dass vielleicht doch nicht alles auf dieser Welt komplett verloren ist. Nebenbei bekommt man Einblicke in ihr Privatleben, das sie – natürlich ebenfalls sehr erfolgreich – mit Ehefrau und Nachwuchs auf einer selbst gebauten Farm in Seattle führt.

Dann ist da noch Phoebe Bridgers, die US-amerikanische Indie-Rock-Sängerin, die in diesem Jahr eine viel beachtete Tournee spielte, die sie auch durch Europa und Deutschland führte. Ich durfte einem dieser Spektakel im Juli in Köln beiwohnen und fühlte mich einerseits wie bei einem Konzert der Extraklasse – andererseits aber auch wie auf einer erstklassigen Polit-Veranstaltung aus einer besseren Welt. Bridgers predigte während ihrer Show ein komplettes Evangelium, und sie ließ keine bittere Pille aus. Die Aufhebung des Urteils Roe vs. Wade in den USA, Gewalt gegen queere Menschen, überhaupt die Rückwendung zu konservativer Politik – Bridgers widmete sich zwischen dem Spielen ihrer Tracks allen unguten Baustellen in einem Rundumschlag, und man hätte all ihre Worte praktisch auch direkt als politisches Think Piece an eine große Zeitung verkaufen können.

Und last but not least ist in diesem Jahr zusätzlich mit Ethel Cain ein neuer Kult-Star am Indie-Girl-Himmel aufgegangen. Die Karriere der Singer-Songwriterin hat 2022 so sehr an Fahrt aufgenommen, dass sie eine ganze Armada von prominenten Vereinen auf sich aufmerksam machte: Sei es Givenchy (die sie auf den Laufsteg holten) oder die englische Band Florence + the Machine (die sie im Oktober mit auf Tour nehmen werden) oder die VOGUE (die ihr anlässlich des Release ihrer Platte »Preacher‹s Daughter« ein ganzes Feature widmeten). Cain ist in diesem Jahr das neue It-Girl, an dem niemand vorbeikommt. Trotz ihres nahezu kometenhaften Aufstieges, der sich mit Sicherheit weiter fortsetzen wird, punktet Cain mit einem absolut geerdeten Lifestyle, den sie in Kombination mit viel Fan-Nähe auch auf ihren sozialen Medien in den Mittelpunkt rückt, anstatt sich als arroganten Shooting-Star zu inszenieren. Herzig zeigt sie Fan-Post in ihren Instagram-Stories und nimmt sich auf Konzerten Zeit für das Publikum. Auf Tour lässt sie sich – ähnlich wie Bridgers – auch ohne Probleme obskure Geschenke wie Zähne in Einmachgläsern persönlich überreichen, die bei anderen Stars eher die Security auf den Plan rufen würden. Bei Cain hingegen werden solche speziellen Interaktionen eher als Ritual von Community und Fan-Liebe zelebriert.

Und überhaupt liegt hier das Besondere an erfolgreichen Musikerinnen wie Carlile, Bridgers und Cain, die sich nicht abkapseln, sondern ganz bewusst den Fokus auf ihre Fan-Community legen und diese auch wertschätzen. Dass sie damit nicht nur in einer abgeschiedenen Blase existieren, sondern auch große Massen des Mainstreams erreichen, hat dabei unfassbar viel subversives Potential, das auch langfristig Veränderungsprozesse anstoßen kann. Carlile beispielsweise kritisierte 2022, dass sie anstatt im Americana-Genre bei den Grammys in der Kategorie »Pop« für ihren Track »Right on Time« nominiert wurde. Zwischen den Zeilen deutete sie dabei auch an, dass ihr unermüdlicher Einsatz für LGBTQIA-Themen und marginalisierte Menschen Grund dafür gewesen sein könne, sie ein bisschen vom eher konservativen Americana-Genre wegzurücken. Bridgers und Cain hingegen präsentieren mit ihrer Anti-Establishment-Attitüde und ihrem unbedingten Willen, einfach authentisch das eigene Selbst auszuleben, eine Fan-Volksnähe, die ihresgleichen sucht. Dass die Musik von allen dreien dabei noch exzellent ist, ist dabei noch das i-Tüpfelchen.

Und am Ende bleibt für mich die Feststellung: Ja, gute Musik macht die Welt besser. Vor allem, wenn sie von guten Künstlerinnen kommt.

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