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Märchenhafter Bio-Punk

Der Film »Vesper Chronicles« erzählt vom Kampf gegen Ausbeutung in einer postapokalyptischen Welt

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.
Vesper (Raffiela Chapman) kommuniziert mit ihrem Vater über eine klapprige Drohne.
Vesper (Raffiela Chapman) kommuniziert mit ihrem Vater über eine klapprige Drohne.

Ökologische Dystopien sind in. Liegen sie in der Science-Fiction-Literatur schon seit Jahren im Trend, sind sie im Kino allerdings noch seltener anzutreffen. Dort werden die großen Budgets meist immer noch in actionorientierte Weltraumabenteuer und Superheldengeschichten von »Valerian« über »Dune« bis zu den neuesten Marvel-Abenteuern gesteckt – wenngleich eine zerstörte Umwelt nicht selten den erzählerischen Hintergrund abgibt, wie etwa auch in »Blade Runner 2049«.

Pure Öko-Science-Fiction ist aber immer noch eher Gegenstand für Low-Budget-Produktionen wie »Io« (2019) oder die jetzt in den Kinos anlaufende litauisch-französisch-belgische Koproduktion »Vesper Chronicles«. Die Regisseure Kristina Buožytė und Bruno Samper haben nach eigenen Angaben jahrelang an der Entwicklung dieses »Bio-Punk-Märchens« gearbeitet, wie sie die in einer postapokalyptischen Zukunft angesiedelte Geschichte bezeichnen. Im Zentrum des 90-minütigen Films steht die 13-jährige, titelgebende Vesper (Raffiela Chapman), die zusammen mit ihrem schwer kranken und bettlägerigen Vater in einer nicht näher bestimmten Zukunft in einem heruntergekommenen Haus auf dem Land wohnt.

In dieser dystopischen Zukunft gibt es keine Tiere mehr auf der Erde. Stattdessen existieren alle möglichen mutierten Pflanzen, sodass der unweit von Vespers Haus gelegene Wald voll ist mit bunten, sich den vorbeigehenden Menschen entgegenreckenden Pilzen, Baumstämmen, die wie Organe pulsieren, und kleinen wurmartigen Pflanzenwesen, die quieksend aus dem Boden schießen.

Die meisten Menschen leben verarmt am Existenzminimum, verfügen aber rudimentär über eine Biodesign-Technologie. So werden Energie und Strom aus Bakterien gewonnen, und Vespers kranker Vater (Richard Brake), der an ein eigenartiges künstliches Organ in einer Plastiktüte angeschlossen ist, kommuniziert mit seiner Tochter über eine alte, schon etwas klapprige fliegende Drohne, deren Inneres aus schleimigen biomechanischen Komponenten besteht. Das erinnert ein wenig an den 90er-Jahre-Science-Fiction-Klassiker »eXistenZ«, wobei diese Technologie in »Vesper Chronicles« in eine apokalyptische Endzeitästhetik eingebettet ist.

Der in Braun- und Grüntönen gehaltene Film erzählt vor allem von Armut und Mangelwirtschaft der Landbevölkerung, der eine im Himmel schwebende Hightech-Biosphäre namens Zitadelle gegenübersteht. Die dortige Industrie vertreibt Samen zum Lebensmittelanbau, die aber genetisch erst dechiffriert werden müssen. Die Landbevölkerung muss dafür mit Blutkonserven bezahlen, die als grundlegende Ressource für die Bio-Engineering-Technologie genutzt werden. Damit werden auch menschenähnliche Klone erschaffen, die als Arbeitskräfte eingesetzt werden.

Die junge Vesper kommt mehr schlecht als recht über die Runden; ihre freie Zeit vertreibt sie sich mit genetischen Experimenten und züchtet eigenwillige Pflanzen. Dabei geht es ihr vor allem auch darum, die DNA der Samen zu entschlüsseln und ohne Beschränkung durch die industriellen Rechtehalter der Zitadelle Nahrung anbauen zu können. Immer wieder liegt sie mit ihrem Onkel Jonas (Eddie Marsan) im Streit, der rücksichtslos ein nahe gelegenes Dorf regiert.

Vespers Traum ist es, in die Zitadelle zu kommen, wo ihr Vater medizinische Hilfe erhalten und sie in einem Labor forschen könnte. Dieser Traum rückt plötzlich in greifbare Nähe, als ein wie ein riesiges Insekt aussehender Fluggleiter abstürzt, aus dem Vesper die junge, aus der Zitadelle stammende, verletzte Camellia (Rosy McEwen) birgt und sich um sie kümmert. Bis sich plötzlich Vespers Onkel einmischt und selbst Vorteile aus der Situation ziehen will.

»Vesper Chronicles« inszeniert die ständig mutierende Natur, deren Pflanzen ebenso wunderschön und verzaubert wie auch monsterhaft und bedrohlich wirken können, ganz ähnlich wie in Alex Garlands Film »Auslöschung«. Bildästhetisch erinnert »Vesper Chronicles« aber auch sehr stark an die Science-Fiction-Bildromane des schwedischen Künstlers Simon Stalenhag. Insofern greifen Kristina Buožytė und Bruno Samper in ihrem Film den erzählerischen Trend auf, ökologische Havarien und darin schlummernde Transformationen der Natur in Szene zu setzen.

In »Vesper Chronicles« scheinen die Grenzen zwischen den Spezies durchlässig zu werden. Menschen, die bewusstlos im Wald liegen, werden binnen kurzer Zeit von Pilzen und Flechten überwuchert. Gleichzeitig bieten Biotechnologie und Gen-Hacking unglaubliche Möglichkeiten auch in medizinischer Hinsicht. Wegen der alles bestimmenden profitorientierten Nutzung und autoritären, gewaltdurchzogenen Hierarchien eröffnen sich aber keine emanzipatorischen Auswege aus dem postapokalyptischen Dilemma. Bis Vesper plötzlich durch den Kontakt zur geheimnisvollen Camellia zwar dem Rätsel der Samen auf die Spur kommt, sich aber gleichzeitig in Lebensgefahr begibt. Denn die junge Frau aus der Zitadelle ist nicht das, was sie vorgibt zu sein.

Trotz der mitunter düsteren Endzeitstimmung entwickelt »Vesper Chronicles« in der Auflösung eine überaus hoffnungsvolle und kämpferische Perspektive mit einer jungen Frau, die sich in einer fast ausweglosen Situation nicht geschlagen geben will.

»Vesper Chronicles«: Litauen/Frankreich/Belgien 2022. Regie: Kristina Buožytė, Bruno Samper; Buch: Kristina Buožytė, Bruno Samper, Brian Clark. Mit: Raffiela Chapman, Richard Brake, Eddie Marsan, Rosy McEwen. 114 Min. Jetzt im Kino.

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