Eigentümliche Verhältnisse

Verschiedene Krisen stellen das Privateigentum zunehmend infrage. Im Interview spricht Tilman Reitz über den Strukturwandel des Eigentums

Wie aus der Szenerie gefallen: Privateigentum ist oft eine schlechte Lösung für gesellschaftliche Herausforderungen. Braucht es also neue Eigentumsformen? Oder liegt das Problem tiefer?
Wie aus der Szenerie gefallen: Privateigentum ist oft eine schlechte Lösung für gesellschaftliche Herausforderungen. Braucht es also neue Eigentumsformen? Oder liegt das Problem tiefer?

Herr Reitz, reden wir zu wenig über Eigentum?

Interview

Prof. Dr. Tilman Reitz lehrt Wissenssoziologie und Gesellschaftstheorie an der Universität Jena. Er ist Co-Sprecher des Sonderforschungsbereichs »Strukturwandel des Eigentums«, der sich in 23 Teilprojekten mit den Herausforderungen und Krisen der Eigentumsordnung befasst. Am 4. und 5. Oktober fand dessen erste Jahres­tagung statt. Tilman Reitz und der Forschungszusammenhang sind zudem an der Konferenz »Vergesellschaftung« beteiligt, die vom 7. bis 9. Oktober in Berlin stattfindet.

Ja, das würde ich schon sagen. Wir reden momentan sehr viel über Verteilung, also darüber, wer in der Gesellschaft wenig und wer viel hat. Aber selbst das kam erst in den letzten zehn oder zwanzig Jahren wieder auf. Als etwa Thomas Piketty mit »Das Kapital im 21. Jahrhundert« 2014 die weltweiten Vermögensungleichheiten detailliert vorgerechnet hat, wurden viele aufgerüttelt. Man würde ja denken, eigentlich sei soziale Ungleichheit weithin bekannt, denn es ist eine Art Dauerthema in kapitalistischen Gesellschaften. Aber die aktuelle Konjunktur der akademischen und politischen Diskussionen über Ungleichheit ist noch nicht sehr alt.

Während also über Verteilung wieder mehr gesprochen wird, ist es wirklich neu, dass mittlerweile auch die Strukturen des Eigentums in den Blick geraten. Wir haben uns daran gewöhnt, Privateigentum als Normalität zu betrachten – so läuft es eben in der Welt und besonders im Kapitalismus. Zum Ende des letzten und Anfang dieses Jahrhunderts wurde jedoch an verschiedenen Stellen deutlich, dass die Vorstellung von klassischem Privateigentum von Individuen oder Unternehmen selbst problematisch wird: Das zeigt sich zentral an der ökologischen Frage, im Bereich der Pflege und Sorge, beim Wohneigentum und auch geistigen Eigentum. Man müsste also mehr über Eigentum reden, um diesen Problemen gerecht zu werden.

Das klingt so, als wäre grundsätzlich alles in Ordnung mit den Eigentumsverhältnissen gewesen und nun würden äußere Krisen diese infrage stellen.

So kann man das nicht sagen. Was ich beschrieben habe, war gewissermaßen der Aufmerksamkeitshorizont der Gesellschaft. Eigentum gehörte lange Zeit nicht zu den Problemen, mit denen man sich gesellschaftlich beschäftigt hat. Diese Wahrnehmung war aber damals schon falsch. Wir reden ja in den 1990er Jahren etwa von der Hochzeit des Neoliberalismus. Während also die Eigentumsverhältnisse unproblematisch oder unwichtig erschienen, wurde enorm viel von unten nach oben umverteilt. De facto war also die Eigentumsfrage sehr wichtig, nur die allgemeine Aufmerksamkeit war nicht da.

Auch die Krisenmomente, die jetzt dazu führen, dass wir über Eigentum nachdenken, hatten sich mehr als angekündigt: Die ökologischen Probleme waren ebenso absehbar wie die Care-Krise und das Internet brachte völlige Neuerungen im Bereich des geistigen Eigentums. Das sind Momente innerhalb des Kapitalismus. Denn streng genommen gibt es keine kapitalistischen Gesellschaften, in denen das Eigentum nicht ein zentrales Problem ist.

Wie meinen sie das?

Eigentum ist eine fundamentale Kategorie. Unsere Gesellschaft beruht auf Warentausch, das heißt, die Waren müssen erst einmal Eigentum sein, damit man sie verkaufen kann. Von diesem Tausch wiederum hängen wirtschaftliche Existenzen der Menschen ab. Zudem ist es ganz grundlegend so, marxistisch gesprochen, dass es Eigentum an Produktionsmitteln gibt. Und dann hängt damit auch die Frage nach der Legitimation von Verteilungen zusammen. Sehr viele Verteilungskonflikte werden durch den Verweis auf Eigentum entschärft. Aber wenn einige wenige die Verfügungsgewalt über die Welt haben, etwa ständig hin- und herfliegen können, weite Teile des Landes besitzen und damit große Probleme für die Gesellschaft verursachen, kann man irgendwann nicht mehr einfach sagen, das sei eben deren Eigentum. Warentausch, Besitz von Produktionsmitteln und Legitimation – das sind drei Punkte, in denen Eigentum ganz zentral für die kapitalistische Gesellschaft ist.

Lässt sich anhand der krisenhaften Momente des Eigentums dann eigentlich auf eine Krise der kapitalistischen Gesellschaftsform schließen?

Zumindest werden dort, wo gerade Krisenmomente auftauchen, auch klassische Formen kapitalistischen Wirtschaftens infrage gestellt. Wenn man sich etwa das geistige Eigentum anschaut, finden sich viele Güter, die eigentlich kostenfrei reproduzierbar sind. Oder jene, deren Verbesserung voraussetzt, dass alle Menschen das Wissen anderer teilen können. Es funktioniert also gar nicht mehr, das als Privateigentum zu betrachten. Nicht einmal mehr bei den großen Konzernen. Google oder selbst Microsoft haben mittlerweile diverse offene Entwicklungsplattformen ohne Eigentumsschranken.

Solche Entwicklungen betreffen auch die Forschung: Sowohl die Ausbildung von Wissenschaftler*innen als auch deren ständige Forschungsaktivität sind öffentlich finanziert. Aber der Staat weiß kaum, wie er das bezahlen soll. Es gibt dann immer wieder Unternehmen, die sich diese Ressourcen aneignen und daraus Profite machen. Bei Pharmakonzernen wurde das etwa immer wieder skandalisiert. Auch wenn es durch die Covid-Impfstoffe zuletzt eine heroische Phase gab, blieben Patentstreitigkeiten nicht aus.

Es war ja eine populäre Forderung, die Patente freizugeben.

Genau, eine sehr populäre Forderung, die selbst von Ländern wie den USA unterstützt wurde. Und mit der Care-Krise verhält es sich ähnlich: Wir haben immer mehr Bedarf an professionellen Sorgetätigkeiten. Aber wer bezahlt das denn eigentlich? Alle Versuche der Privatisierung dieses Sektors haben zu einer partiellen Plünderung von Staatskassen geführt. Aber jedenfalls nicht dazu, dass Betreuung oder Pflege verbessert wurden.

Das sind alles Probleme, die sich nicht in der Logik kapitalistischen Eigentums lösen lassen. Und daraus ergibt sich die spannende Frage, ob all das den Kapitalismus in eine Systemkrise stürzen wird. Oder ob der Kapitalismus die Krise mit etwas geänderten Eigentumsstrukturen bewältigt bekommt, mit ein bisschen mehr Öffnung, mehr Public Private Partnerships und Arrangements, in denen die Arbeit vieler am Ende doch die Profite weniger bedingt. Es gibt die Möglichkeit, dass sich der Kapitalismus auch so reformiert, dass zwar nicht allen geholfen ist, aber die größeren Konzerne durchkommen.

Ist das der Grund, warum die Infragestellung von Privateigentum ein so großes politisches Potenzial entfaltet, wie man es etwa bei der Frage nach der Vergesellschaftung von Wohnraum sieht?

Beim Thema Wohnen beobachten wir seit Jahren die Wirkungen einer Überakkumulation von Kapital. Also die Leute, die wirklich viel haben, wissen nicht mehr, wo sie es investieren können und da liegt es nahe, dass das Kapital in einen Bereich drängt, wo knappe und lebenswichtige Güter zu verteilen sind. Genau das macht es zu einer eminent politischen Frage, die auch die gesellschaftliche Legitimität von Eigentum betrifft. Dem Wohnen steht ja mittlerweile auf die Stirn geschrieben, dass es ein unfairer Deal ist: Man muss immer mehr dafür bezahlen, aber es verbessert sich nichts. Die Leute können sich die Miete nicht mehr leisten und leben trotzdem in schlecht gewarteten Häusern und so weiter. Es ist klar, dass es hier ein riesiges Unrechtsbewusstsein in der Bevölkerung gibt.

Was ist denn das Potenzial solcher Empörung und der Mobilisierung? Liegt darin auch ein Anknüpfungspunkt für eine radikale Gesellschaftskritik?

Darin liegt durchaus eine Chance für linke Bewegungen. Eines der großen Vorbilder wäre ja etwa die Lohnpolitik von Industriegewerkschaften und von organisierten Arbeiter*innen. Diese richtete sich ebenfalls gegen existenziell bedrohliche Zustände und systemische Probleme, aber sie visierten auch reale Verbesserungsmöglichkeiten an. Und natürlich haben sich antikapitalistische Kräfte in diesen Prozessen engagiert und dazu beigetragen, dass überhaupt Kämpfe möglich wurden. Auch im Kontext der Kampagne Deutsche Wohnen & Co. Enteignen ist das interessant: Auf der einen Seite gibt es einen riesengroßen Erfolg, weil man es geschafft hat, auch die normale Bevölkerung mitzunehmen und einen Volksentscheid zu gewinnen. Noch ist offen, ob am Ende praktische Ergebnisse herauskommen, die den Leuten auch wirklich helfen. Der Prozess kann vor dem Verfassungsgericht scheitern oder auch an der Frage, wie die Stadt eigentlich mit den Kosten für die ganzen Wohnungen zurechtkommen würde. Aber das heißt ja nicht, dass man es nicht versuchen soll. Die Geschichte der Gewerkschaften hat gezeigt, dass Erfolge möglich sind.

Aber vielleicht auch Erfolge, die einen Kompromiss mit jenen Verhältnissen bedeuten, aus denen die Probleme erst hervorgehen. Die Kritik an kapitalistischer Vergesellschaftung scheint hier eher zurückzutreten. Selbst in Ihrem Sonderforschungsbereich zum Strukturwandel des Eigentums ist eine explizite Kapitalismuskritik seltsam abwesend.

Das stimmt einerseits, andererseits aber auch nicht. In einer politischen Kampagne wirbt man um gesellschaftliche Zustimmung. Aber auch im akademischen Bereich muss man eine nennenswerte Menge an Menschen zusammenbringen und Forschungsförderung akquirieren. Insofern steht unser Forschungszusammenhang strukturell eher Karl Polanyi als Karl Marx nahe: Polanyis Werk »The Great Transformation« ist eine Kapitalismuskritik, die auf die Möglichkeit der Regulierung innerhalb des Systems setzt. Wenn der Markt frei waltet, dann passieren eben Katastrophen, die sich aber mit sozialstaatlicher Regulierung in den Griff kriegen lassen.

Damit sagt man also nicht, dass man die Krise nur bewältigt, wenn man Produktionsmittel vergesellschaftet und zwar systemisch und nicht nur in einzelnen Bereichen. Aber ich würde diese Dinge auch trennen. Man kann sich politisch sehr weit links engagieren und wissenschaftlich die entsprechenden Fragen stellen; viele von uns arbeiten mit Marx. Aber man kann nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse vorab einem linken Programm unterordnen. Im Zweifelsfall muss man auch Konservative überzeugen können.

Um es ganz knapp zusammenfassen: Eine Kritik des Kapitalismus hat hier mehr Raum, als sie in normaler universitärer Forschung haben würde. Ob das genug Raum ist, das lässt sich nicht abstrakt entscheiden. Es hängt ja auch von der realen Entwicklung der Gesellschaft ab: Entweder gibt es so viele Probleme des Privateigentums, dass wir mit kapitalistischer Vergesellschaftung nicht mehr weiterkommen. Oder wir beobachten, dass der Kapitalismus im geistigen Eigentum, bei Sorge und Pflege sowie beim Wohnen Modelle jenseits des klassischen Privateigentums findet, mit denen die kapitalistische Ausbeutung weiterhin wunderbar funktioniert.

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