Latourkundemuseum

Der ewige Theologe: Zum Werk des kürzlich verstorbenen Soziologen und Philosophen Bruno Latour

  • Guillaume Paoli
  • Lesedauer: 6 Min.
Bruno Latour – ein linker Theoretiker? Wohl kaum.
Bruno Latour – ein linker Theoretiker? Wohl kaum.

Eines steht außer Zweifel: Der gerade verstorbene Bruno Latour war weltberühmt. Er gehörte zu jener Branche, für die, zusammen mit Luxusparfüms, Frankreich Spitzenexporteur bleibt, nämlich zu den Starintellektuellen. Unter ihnen war er (hier darf die Angabe nicht fehlen) der »meistzitierte«. Das heißt, er wurde in der von Rankings verseuchten Academia der Influencer mit den meisten Likes bedacht.

Worin begründet sich der Ruhm des Starintellektuellen? Wie bei Christian Dior und Pia Wurtzbach hauptsächlich darin, dass alle wissen, dass er berühmt ist. »Es muss wohl einen Grund dafür geben«, denkt der Erstsemester und verbeugt sich devot vor der neuen Autorität. Da wird die leiseste Kritik zur Majestätsbeleidigung. In 20 Sprachen übersetzt, sind alle Bücher Latours Bestseller, was nicht heißt, dass sie auch gelesen, geschweige denn verstanden werden. Auch Sartre, der erste Stardenker, war eher für seinen Besuch existenzialistischer Cafés berühmt als für seine Kritik der dialektischen Vernunft.

Die Strategie wusste Latour auf die Spitze zu treiben. Man kennt ihn hauptsächlich als Kurator von Kunstausstellungen, Mitinitiator von Theaterprojekten und omnipräsenten Talkgast. Seine Anhängerschaft kam aus dem Popkulturbürgertum. Darum werden jetzt seine Nachrufe von Theatermachern wie Milo Rau oder Literaturwissenschaftlern wie Tobias Haberkorn verfasst. Letzterer stellt in seiner Würdigung für »Die Zeit« den verstorbenen Franzosen auf eine Höhe mit – wenn schon, denn schon – Isaac Newton und Immanuel Kant.

Hingegen wird dem Tod des Wissenschaftssoziologen von Wissenschaftlern wie von Soziologen auffällig schweigsam begegnet. Erstere werden sich schmunzelnd an das Buch »Eleganter Unsinn« erinnern, in dem die Physiker Alan Sokal und Jean Bricmont Latours groben Missbrauch wissenschaftlicher Begriffe nachgewiesen hatten. Und was sollen Soziologen von einem vermeintlichen Kollegen halten, der wie einst Margaret Thatcher effekthascherisch behauptete: »So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht«?

Zum Wesen des Stardenkers gehört die Fähigkeit, wie ein Virus zu mutieren, sobald die eigene Theorie von der Wirklichkeit konterkariert wird. Als es noch Mode war, hatte Latour seine Karriere als Konstruktivist begonnen. Er bestritt, dass die Wissenschaft objektive Tatsachen beschreibe. Das war für Leugner des Klimawandels ein gefundenes Fressen. Sie wurden nicht müde zu behaupten, dass Klimawissenschaftler eine Gefahr konstruiert hätten, um Forschungskredite zu bekommen. Von der unleugbaren Objektivität der Katastrophe überwältigt (fortan nannte er sie verniedlichend »das neue Klimaregime«), musste Latour einen Rückzieher machen, selbstverständlich ohne zuzugeben, mit seiner ursprünglichen Position falsch gelegen zu haben.

Latour ist der neue politische Kitsch zu verdanken, wonach zusammen mit allen Menschen »nichtmenschliche Existenzformen« in die große Community der Erdlinge mit eingeschlossen werden. Endlich wird ein All-inclusive-Kollektiv definiert, dem nicht vorgeworfen werden kann, es würde irgendeine Minderheit diskriminieren. Letztes Jahr wurde am Berliner Gorki-Theater ein Chor »for Animals, People and all other Lives« inszeniert. Das ist tierlieb und rührend, dabei wird übersehen, dass zu Latours Terrarium nicht nur Pandabären, Jakobsmuscheln und Pilze gehören, sondern gleichberechtigt Smartphones, Kraftwerke und Müllverbrennungsanlagen. Im Netzwerk interagieren technische »Aktanten« und Lebewesen miteinander, darum gebe es keinen Grund, sie zu differenzieren. Philosophisch nennt sich das ontologische Verflachung. Dadurch wird nicht so sehr das anthropozentrische Weltbild herabgesetzt als das technologische aufgewertet. Mit Absicht.

Erstaunlich ist, wie die Fans die zentrale Lehre ihres Gurus nicht wahrhaben wollen. Trotz aller Mutationen und Zweideutigkeiten bestritt der selbst ernannte Philosoph konstant, dass es Systeme gebe, ja, dass der Systembegriff überhaupt einen Sinn habe. Im digitalen und KI-Zeitalter ist seine Behauptung ziemlich abenteuerlich (oder wie Journalisten sagen: radikal), ein technisches System sei nichts als »eine philosophische Vorstellung, die auf keiner empirischen Untersuchung beruht«. So stellte sich der vermeintliche »Erneuerer der politischen Ökologie« explizit gegen tatsächlich radikalökologische Theoretiker der 70er Jahre wie Ivan Illich, Cornelius Castoriadis und Jacques Ellul.

Zu jener Zeit war die politische Ökologie von dem Projekt der sozialen Emanzipation noch nicht zu trennen, beide richteten sich gegen die Heteronomie, die zwanghafte Selbstständigkeit technischer Systeme. In Latours Netzwerk-Theorie hingegen gibt es nur Einzelakteure, deren »Existenzweisen« frei von Systemzwängen von einem »diplomatischen Dispositiv« reguliert werden, dem sprichwörtlichen Parlament der Dinge. Insofern nimmt es nicht Wunder, wenn er 2010 erklärt: »Ich habe nie auch nur eine Sekunde daran geglaubt, dass wir uns in einem ›kapitalistischen System‹ befinden, und zwar aus demselben Grund, weshalb ich nicht glaube, dass wir eine ›Natur‹ haben. In beiden Fällen habe ich denselben Einwand gegen den sehr hemmenden Begriff des Systems.« Vermutlich hat Milo Rau eine solche Äußerung im Sinn, wenn er Latour für seine »Zertrümmerung linker Denkverbote« lobt.

Allein der grassierende Postalphabetismus kann erklären, dass Latour allen Gegenbelegen zum Trotz den Ruf eines linken Theoretikers genießt. Aktivisten riet er einmal, sie sollten aufhören, »den großen bösen Kapitalismus« zu kritisieren. Zu ihrem Anliegen, fuhr er fort, gebe es »vielmehr eine sehr interessante Verbindung mit der Theologie«. Selbst wenn er in Hörsälen und auf Bühnen maskiert auftrat, hat der Jesuitenschüler Bruno Latour, der mit einer Arbeit zur Exegese der Wiederauferstehung im Markus-Evangelium promoviert wurde, nie aufgehört, Theologe zu sein.

Zu seinem Verständnis seien die Reden empfohlen, die er wiederholt am Institut Catholique de Paris hielt. Da wetterte er ungeniert gegen die »Unheilspropheten«, die uns angeblich demütigen und »zwingen, den Kopf zu senken«. Stattdessen plädierte Latour für eine »eschatologische Ökologie« mit Tiraden wie: »Wir müssen die Wissenschaft, die Technik, die Märkte lieben, sprich: die ganze Künstlichkeit eines Planeten, dessen Antlitz wir erneuern lernen müssen. Prometheus sind wir, Prometheus müssen wir bleiben, nur diesmal nach Gottes Abbild.«

In den letzten Jahren gründete Latour ein »politisches Konsortium« für die »neue ökologische Klasse«, was eher wie ein Rollenspiel für den gelangweilten Mittelstand anmutet. Zunächst müssen die Teilnehmenden einer nach dem anderen ihr eigenes »Territorium« beschreiben, die Hindernisse nennen, die ihnen im Weg stehen. Dann werden »diplomatische Verhandlungen« geführt, um Kompatibilitäten und Komplementaritäten zu prüfen, die in einen kollektiv verfassten »Bericht über die Existenzweisen« zusammenfließen. Dieser böte wiederum die Basis für die Erstellung von »Beschwerdeheften«, die eines schönen Tages feierlich an die zuständigen Ämter übergeben würden. Über die Belange der Bürger bestens aufgeklärt, werden dann die Regierenden bessere Entscheidungen treffen können und die Einwohner, so Latour weiter, »das Gefühl haben, von ihren Vertretern verstanden zu werden«.

So radikal war Politik noch nie! Darin glaubt Emmanuel Macron die Möglichkeit zu erblicken, die Nation mit dem zornigen Volk zu versöhnen. Doch meistens erweisen sich die Stars im Denkerhimmel bald als Sternschnuppen. Das wäre im Fall Latour kein untröstlicher Verlust.

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