Risse im Kanon

In Berlin fand die Konferenz »Zwischenwelten der Kritischen Theorie« statt

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 3 Min.

Wäre sie ein Dogma, ließe sich die Frage, was ist kritische Theorie, sicher einfacher beantworten. Letzten Endes entspringt diese Frage einer positivistischen Gesinnung», schrieb Leo Löwenthal 1979. Die Frage, was den paradigmatischen Theoriekern der Kritischen Theorie ausmacht, wäre auch nicht im (Rück-)Blick aus der Gegenwart adäquat. Zu oft gehe es in ideengeschichtlichen Ansätzen um die Gewichtung der großen Vier: Hegel, Kant, Freud und Marx.

Die von Till Seidemann und Felix Brandner organisierte Konferenz «Zwischenwelten der Kritischen Theorie» an der Freien Universität Berlin näherte sich von den Rändern, um aufschlussreiche, aber verschüttete Gehalte aufzudecken. Den Begriff borgten sie von Ernst Bloch, der in «Zwischenwelten der Philosophiegeschichte» sein Unterfangen als eine «Rettung einer neuen Art von Nebenbei» beschreibt, «das gerade mit Mediokrität der Gegenstände nicht das Mindeste gemein hat».

Wer die Risse im Kanon erkundet, dürfe dies nicht im Sinne der Musealisierung tun, betonten die Veranstalter. Als eingreifendes Verfahren der Historiografie, indem die «Jetztzeit» mit ihren Vergangenheiten in Vermittlung tritt, beschreibt auch Christian Voller Methodik und Thema seines Buches «In der Dämmerung. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie», das er auf der Fachtagung vorstellte. Als «Heidelberger Synkretismus» bezeichnet er den Moment, in dem Neukantianismus in der Krise und Enttäuschung über das sich abzeichnende Scheitern der Revolution aufeinandertreffen. Es kommt Anfang der 1920er Jahre zu einer Re-Lektüre Marx’scher Texte, zugleich erscheint Georg Lukács’ «Geschichte und Klassenbewusstsein». Metaphysisches Denken trifft in Diskussionen zwischen Alfred Sohn-Rethel, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Alfred Seidel und anderen auf die Warenform.

Der Umschlag lässt sich in den Werken der Kritischen Theorie verfolgen: Während Walter Benjamins «Ursprung des deutschen Trauerspiels» noch mit metaphysisch verhafteten Begriffen wie der Idee operiert, ist das Fragment gebliebene «Passagen-Werk» materialistisch geprägt. Immer in regem Briefkontakt, doch nur in der Peripherie des personellen Kerns blieb Benjamin, der gemeinsam mit Siegfried Kracauer, dem missvergnügten Außenseiter, im Zentrum einiger Vorträge stand. So betrachtete nicht nur Leonhard Riep den frühen, sprachmystischen Erfahrungsbegriff Benjamins, auch Leonie Wellmann zeichnete die ideengeschichtlichen Einflüsse nach, über die sich das Verhältnis beider zur jüdischen Sprachkritik von Martin Buber und Fritz Mauthner bestimmen lässt.

Während Benjamin vorerst nicht die öffentliche Verhandlung sprachkritischer Überlegungen suchte, trug Kracauer die Debatte um das Verstummen nach dem Zweiten Weltkrieg, um «jüdische Geheimsprachen» und (internalisierten) Antisemitismus in die Zeitungen. Heute als Filmkritiker und Autor der «Angestellten» bekannt, erfährt Kracauer nur eine eingeschränkte Rezeption, legte Ansgar Martins dar. Die «Zwakeleien» mit Adorno führten zur Nichtveröffentlichung theoretischer Werke und zu einigen geistigen Anleihen – Martins nennt hier Motive aus der Dialektik der Aufklärung, das Bilderverbot und die (Selbst-)Bestimmung des nonkonformistischen Intellektuellen –, die nicht ausgewiesen wurden.

Plagiat oder geistesgeschichtlicher Normalfall? Es bleibt bei Vorwürfen verkrachter Theoretiker, die einander leider nicht loswerden. Die Fachtagung vertiefte sich in die mannigfaltigen Zwischenräume, in denen sich ein weitläufiges, teils kurioses Figurenrepertoire auftut. Einflüsse von Paul Tillich, Heinrich Rickert oder Arnold Schönberg treten darin in wechselnden Konstellationen hervor und stellen sich neben die Klassiker.

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