Soziale Infrastruktur bedroht

Pflegeheime, Wohnungslosenhilfe, Beratungsstellen: Soziale Einrichtungen sind in finanzieller Not

»Insgesamt sehen 90 Prozent der Dienste und Einrichtungen ihre Arbeit als gefährdet an«, erklärte Joachim Rock am Freitag bei der Vorstellung einer Umfrage des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. An der Befragung des Paritätischen beteiligten sich bundesweit über 1300 gemeinnützige soziale Einrichtungen aus dem gesamten Spektrum der sozialen Arbeit. Dazu zählen unter anderem stationäre Pflegeeinrichtungen, ambulante Dienste, Kitas, Frauenhäuser, Beratungsstellen, Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, Geflüchtetenheime und die Wohnungslosenhilfe. Die enorm gestiegenen Energiepreise treffen die sozialen Einrichtungen hart.

46 Prozent von diesen gaben an, dass sie es ohne Hilfe maximal ein Jahr schaffen, ihre Angebote weiterzuführen. Ein Viertel der Einrichtungen sogar lediglich ein bis sechs Monate. In den Rückmeldungen sei laut Rock, Leiter der Abteilung Arbeit, Soziales und Europa des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, deutlich geworden, dass ihre Sorge auch die Situation ihrer Beschäftigten und der ihnen anvertrauten hilfsbedürftigen Menschen betrifft.

»Sie können nicht einfach ihren Verbrauch reduzieren. Weil sie mit und für sozial extrem verwundbare Personen arbeiten«, stellte Rock fest. Eine gewisse Wärme sei einfach unerlässlich. Rund 60 Prozent der befragten Einrichtungen rechnen damit, dass die Abschlagszahlungen für Strom diesen Winter um das Anderthalb- bis Zweifache höher ausfallen als bisher. In Bezug auf Abschlagszahlungen für Wärme sind die Befürchtungen noch drastischer – hier rechnen 26 Prozent der Einrichtungen damit, dass die Abschlagszahlungen diesen Winter um etwa das Dreifache höher ausfallen. Und die Mehrkosten stehen für viele bereits zeitnah an.

28 Prozent müssen bereits in diesem Monat höhere Abschlagszahlungen für Strom entrichten, für zwei Drittel fallen die Abschläge ab Januar 2023 an. »Da muss schnell gehandelt werden«, so Rock. Über 77 Prozent der befragten Einrichtungen rechnen darüber hinaus mit weiteren Kostensteigerungen; insbesondere die gestiegenen Lebensmittel- und Spritkosten belasteten sie laut dem Verband schon jetzt. Ein Problem ist dabei, dass soziale gemeinnützige Einrichtungen diese Preissteigerungen auch nicht durch Erspartes auffangen können, da sie aus rechtlichen Gründen kaum Rücklagen bilden dürfen.

»Was die sozialen Einrichtungen anbelangt, ist es jetzt wirklich fünf vor zwölf«, sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Verbandes am Freitag während der Präsentation der Umfrageergebnisse. Es werde jetzt gesagt, überall solle Gas gespart werden, stellte Schneider weiter fest. »Uns ist nicht klar, ob allen ernstes in einem Frauenhaus, wo Frauen mit ihren Kindern leben, die Heizung runtergedreht werden soll.«

Die steigenden Preise könnten von den Diensten und Einrichtungen nicht einfach weitergegeben werden. Pflegebedürftige in Heimen etwa dürften nicht noch stärker belastet werden, so Schneider. Der Eigenanteil sei aktuell schon zu hoch. Wenn dieser durch höhere Energiekosten weiter steigt, würde dies noch mehr Menschen in Sozialhilfe treiben. Der Paritätische fordert für den pflegerischen Bereich unter anderem einen Soforthilfefonds, mit dem diese Kosten ausgeglichen werden können.

Die diskutierte Strom- und Gaspreisbremse reicht laut Verband für die sozialen Einrichtungen nicht aus, weil diese ihre Angebote nicht einfach reduzieren oder Kosten beliebig weitergeben können. »Wenn gemeinnützige soziale Einrichtungen und Dienste nicht schnell, umfassend und unbürokratisch unterstützt werden, droht im Sozialen eine Tabula rasa«, warnte Schneider. Soziale Einrichtungen und Dienste bräuchten umgehend eine verbindliche Zusage, dass man sie nicht im Regen stehen lasse. Der Paritätische fordert für sie einen umfassenden Schutzschirm und geht davon aus, dass dafür ein zweistelliger Milliardenbetrag notwendig ist.

Der Verband appelliert an die Politik, keine Zeit verstreichen zu lassen. Bund, Länder und Kommunen müssten schnellstmöglich unbürokratisch verlässliche und finanziell auskömmliche Absicherung schaffen. Gemeinnützige Organisationen mit ihrer Arbeit für und mit Menschen, die selbst auf Hilfe, Beratung und Schutz angewiesen sind, leisteten täglich einen unverzichtbaren Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und seien auch für die Krisenbewältigung existenziell. »Wir reden über nichts Geringeres als die Gefahr von großflächigen Insolvenzen im Bereich der sozialen Infrastruktur«, fasste Schneider die Situation zusammen.

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