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»Zünglein an der Waage«

Markus Bickel, Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv, über die anstehenden Wahlen in Israel

  • Rudolf Stumberger
  • Lesedauer: 5 Min.

In welcher gesellschaftlichen Stimmung findet der Wahlkampf statt? Wie motiviert sind die Wähler für den Urnengang?

Am 1. November wird in Israel zum fünften Mal in nur dreieinhalb Jahren gewählt, entsprechend ermüdet ist die Bevölkerung von den Parolen der Politiker. Schließlich brachte keiner der letzten vier Wahlgänge einem der politischen Lager eine klare Mehrheit, sodass die Regierungen schnell wieder zerbrachen. Das steht auch dieses Mal zu befürchten: Weder das Mitte-rechts-Bündnis um Premierminister Jair Lapid noch die rechte Opposition um Ex-Regierungschef Benjamin Netanjahu haben bislang eine Mehrheit von 61 der 120 Knesset-Sitze sicher. Das steigert den Verdruss der Wählerschaft, die fürchtet, in ein paar Monaten schon wieder wählen zu müssen, weil keine neue Regierung zustande kommt. Vor allem in der arabisch-israelischen Gemeinschaft wollen viele deshalb gar nicht wählen gehen.

Interview


Markus Bickel leitet das Israelbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv. Am 1. November sind die Wähler in Israel erneut aufgerufen, eine Regierung zu wählen. Das israelische Parlament, die Knesset, hatte im Sommer für ihre eigene Auflösung gestimmt und so den Weg frei gemacht für Neuwahlen – die fünfte innerhalb von dreieinhalb Jahren. Umfragen sehen die national-konservative Likud-Partei von Ex-Ministerpräsident Benjamin Netanyahu als stärkste Kraft. Über die Wahl sprach Rudolf Stumberger mit Bickel.

Gibt es Themen, die im Mittelpunkt des Wahlkampfes stehen? Oder geht es im Wesentlichen darum, ob Netanjahu wieder ins Amt kommt?

Es geht wie immer um Israels Sicherheit – wobei Lapid die Ausweitung regionaler Bündnisse unter seiner Regierung als Erfolg feiert. So auch das Mitte Oktober geschlossene Abkommen mit dem Libanon über den Grenzverlauf entlang der Gasfelder vor den Küsten der beiden Nachbarstaaten. Netanjahu hingegen brandmarkt die von den USA vermittelte Einigung als Ausverkauf an die Hisbollah, Irans Stellvertreterarmee im Libanon. Dass in Iran seit Wochen Tausende gegen das Regime protestieren, davon vernimmt man in Israel jedoch erstaunlich wenig. Ganz so groß kann der Wunsch nach wirklichem Wandel im Land des Lieblingsfeindes israelischer Sicherheitsfanatiker also nicht sein. Und natürlich geht es wie bei den vergangenen vier Wahlen um Netanjahu: »All but Bibi« ist vielleicht der einzige Nenner, der die Parteien der amtierenden Regierung des Wandels zusammenhält. Ideologisch reicht die Koalition von Nationalisten und Neoliberalen über die islamische Ra’am-Partei bis zur sozialdemokratischen Meretz. Am Ende werden möglicherweise einzelne arabische oder die ultraorthodoxen jüdischen Parteien das Zünglein an der Waage spielen – und Netanjahu entweder eine Rückkehr an die Macht erlauben oder das eben verhindern.

Wie ist dabei die israelische Sicht auf den Krieg in der Ukraine und die Energiekrise?

Die israelische Regierung hat nach Beginn der Invasion im Februar eine sehr ambivalente Haltung eingenommen gegenüber Wladimir Putin. Offene Kritik an der Politik Moskaus gibt es bis heute nicht, weil man in Jerusalem fürchtet, künftig nicht mehr Konvois der Hisbollah und Stellungen iranischer Pasdaran im Nachbarland Syrien bombardieren zu können. Da hat Putin bislang weggeschaut. Zugleich sieht sich die Regierung in Jerusalem dem Vorwurf des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi ausgesetzt, sein Land zu wenig zu unterstützen. Dass ausgerechnet das einzige nichtisraelische jüdische Staatsoberhaupt der Welt keine Waffen aus Israel erhalten soll, halten auch viele Israelis für moralisch verwerflich. Auf der anderen Seite lehnen 40 Prozent der Bevölkerung Waffenlieferungen an Kiew ab.

Die russischstämmige Bevölkerung stellt eine große Gruppe dar finden sich dort spezielle politische Präferenzen?

Von den gut eine Million russischsprachigen Israelis stammt etwa ein Drittel aus der Ukraine, ein Drittel aus Russland und ein weiteres Drittel aus anderen früheren Sowjetrepubliken. Entsprechend heterogen ist diese Bevölkerungsgruppe politisch aufgestellt, von Einheit keine Spur. Obwohl die russischsprachigen Israelis die größte jüdische Minderheit bilden, ist es ihnen nicht gelungen, ihre Interessen schlagkräftig durchzusetzen.

Den ultrakonservativen Gruppen wird ein Machtzuwachs zugesprochen. Steht Israel vor einem neuen Rechtsruck?

Angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Knesset, wo mehr als 100 Abgeordnete zentristischen oder rechten Parteien angehören, lässt sich kaum noch von einem Ruck sprechen. Die rechte Hegemonie ist seit Jahren etabliert, könnte sich in einer neuen Regierung allerdings noch stärker manifestieren als bislang: Sollte Netanjahu tatsächlich in die Lage kommen, ein Kabinett zusammenzustellen, würden möglicherweise der Rechtsextremist Itamar Ben-Gvir von der Jüdischen Stimme und Bezalel Smotrich vom Religiösen Zionismus Minister werden. Sie vertreten offen rassistische Positionen. Ben-Gvir forderte erst kürzlich bei einer Kundgebung in Jerusalem Polizisten mit gezückter Pistole auf, auf Palästinenser zu schießen, die Steine werfen.

Die Linke in Israel ist zersplittert. Wie stehen ihre Wahlchancen?

Die linkszionistischen Parteien Meretz und Avoda kommen Umfragen zufolge auf nicht mehr als zehn Sitze in der nächsten Knesset – in einem Parlament mit 120 Abgeordneten! Zusätzlich geschwächt wird das einstige Friedenslager durch die Spaltung der Gemeinsamen Liste arabischer Parteien, mit der zumindest Meretz in der Opposition gegen Netanjahu gut zusammengearbeitet hat. Die Glaubwürdigkeit der Partei in der linken Wählerschaft ist durch die einjährige Regierungsbeteiligung massiv gesunken; viele wenden sich dem politischen Zentrum zu, wovon der amtierende Premierminister Lapid profitieren könnte.

Welche Positionen nehmen die Parteien der arabischen Bevölkerung ein?

Die Gemeinsame Liste der vier israelisch-palästinensischen Parteien, die noch 2020 gemeinsam antraten, ist auseinandergefallen. Die konservativste von ihnen, die islamische Ra’am-Partei von Mansur Abbas, ist seit einem Jahr Teil der Regierung. Die nationalistische Balad-Partei, die bürgerliche Ta’al und die kommunistische Hadash scheiterten kurz vor der Listenbildung daran, sich auf ein gemeinsames Bündnis zu einigen – mit dem Ergebnis, dass nun alle drei um den Einzug in die Knesset bangen müssen. Von den einst 15 Sitzen, die sie 2020 erzielten, sind die arabischen Parteien weit entfernt – was zu weiterem Wählerverdruss in den palästinensisch-israelischen Gemeinden geführt hat.

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