Der Flug der Nachtigall

Eine sanfte Filmsatire auf das Land der Albträume: »Land of Dreams« von Shirin Neshat und Shoja Azari

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 5 Min.
Eine Traumfängerin im Albtraumland: Simin (Sheila Vand) in dem Film "Land of Dreams".
Eine Traumfängerin im Albtraumland: Simin (Sheila Vand) in dem Film "Land of Dreams".

Was an Shirin Neshat gestört hat, gereicht ihr nun zum Vorteil. Die Werke der 1957 im Iran geborenen Künstlerin – kalligrafisch beschriftete Fotos, Videos – wirken so glatt, als kämen sie gerade aus dem Plotter eines Werbebüros. Dass sie häufig einen Kulturkampf zwischen Ost und West suggeriert, erfreut die politische Reaktion. Doch der Spielfilm »Land of Dreams«, den Neshat mit ihrem Partner Shoja Azari gedreht hat, spielt ohnehin in einer stilisierten Plastikwelt, bevölkert von Pseudopersonen, die da sind und doch nicht da sind. Und was dieses Volk an kulturellen Mustern aufruft, soll gar nichts anderes als Karikatur sein.

Zwar macht die deutsch-amerikanische Koproduktion manche Zugeständnisse an den Mainstream, etwa mit einer Fast-Liebesgeschichte und der trivialen Musik von Michael Brook. Doch gerade indem es endgültig flach wird, gewinnt das Ganze an Tiefe. Vielleicht sollte man das den Andy-Warhol-Effekt nennen.

Ein surrealistischer Effekt stellt sich nicht ein, obwohl es um Träume geht und der im letzten Jahr verstorbene Jean-Claude Carrière, die rechte Hand des späten Luis Buñuel, am Drehbuch mitgeschrieben hat. Die Grundidee, die von Neshat, nicht von Carrière stammt, wäre allerdings eines Buñuel würdig: Eines Tages steht die Volkszählerin vor der Tür und fragt nach dem letzten Traum. »Warum?« – »Zu Ihrer eigenen Sicherheit.« – »Ja, wenn es das Gesetz will …«

Die Träume sind nicht allzu aufregend. Eine Marilyn-Monroe-Imitatorin (Anna Gunn) träumt, sie sei gelähmt; eine alte Frömmlerin (Robin Bartlett) träumt, die Mexikaner feierten in ihrem Wohnzimmer den Día de los Muertos, den mexikanischen Tag der Toten; eine wie ein Pfau lachende Großbürgerin (Isabella Rossellini) träumt, sie werde von einem Pfau erst angebalzt, dann attackiert. Und die Traumfängerin selbst, Simin, die aus dem Iran stammt, träumt, sie fände ihren toten Vater bei Sonnenaufgang direkt hinter dem Sunset-Motel, in dem sie wohnt. Der Vater liegt in einer Wüste, da, wo sonst der Highway verläuft. Als sie den Toten anspricht, öffnet er die Augen.

Ein zweiter Einfall des Skripts ergänzt den ersten trefflich: Die Traumfängerin spricht die Träume kostümiert vor ihrer Kamera auf Farsi nach und stellt das Ergebnis ins Netz, wo ihr von der iranischen Exil-Community die digitalen Herzchen zufliegen. Die Mimikry, mit der die Eingewanderten die Alteingesessenen nachahmen, sei, so schrieb der Theoretiker Homi Bhabha, doppelt codiert: Sie imitiert und sie entblößt.

Die Mimikry kehrt in einem Witz wieder, in dem der clevere Mexikanerjunge Pedro nicht nur die hehren Maximen der US-amerikanischen Staatsgründer besser kennt als seine angelsächsischen Mitschüler, sondern auch die Zoten von George W. Bush jr. oder Donald Trump datieren kann. Den Witz erzählt ein »Villain« (Schurke) namens Villin, gespielt von Matt Dillon; ein Namensscherz der Filmemacher.

Im Zusammenspiel mit ihm und allen anderen Männern des Films, die ihr stets unangenehm nah rücken, erweist sich die ganze Subtilität der Hauptdarstellerin Sheila Vand, die die Mitte zwischen dem Verhuschten und dem Selbstbewussten hält. So wechselt Simin, mal unterwürfig, mal keck, mal parodistisch, hin und her zwischen ihrer skurrilen Privatzone und der Statistikbehörde, die in einem pyramidenartigen Gebäude residiert.

Die beiden Welten sind technologisch markiert. Bei der Behörde ist technisch alles »state of the art«, biometrische Scanner, Transparentbildschirme, Hologramme. Simin dagegen besitzt zwar einen Smart Speaker, fährt aber einen Mercedes vom Typ 300 D, der seit 1986 nicht mehr gebaut wird, fotografiert statt mit dem Smartphone mit einer Leica D-Lux und schleppt einen abgestoßenen Koffer voller Fotos mit sich, der an einer Stelle schon geklebt ist. Aber am Ende bezeugt gerade der schicke alte Kram, mit dem sich Simin umgibt, Style. Und Style, glatte Oberfläche, muss hier alles haben, damit das Auge nirgendwo kleben bleibt.

Die Frage drängt sich auf, weshalb der Staat Träume sammelt. Die vom Film gegebene Antwort, er wolle kontrollieren, ist billig. Überwachungsfantasien sind ohnehin nicht erschreckend. Wer überwacht, interessiert sich noch. Unheimlicher ist eine Gesellschaft, in der sich niemand mehr für irgendwen interessiert. Ein Schrecken geht von der Weisheit aus, die ein iranischer Maoist (Stephen R. Estler) überliefert: Die Nachtigall fliege in der Nacht nur, wenn sie ihr Nest nicht mehr findet. So werde sie zur leichten Beute der Eule.

Die Figuren dieses Films, nicht nur Simin, finden ihr Nest nicht mehr und haben vielleicht nie eines gehabt. Alle, bei denen es zunächst anders aussieht, treten zweimal auf (ohne deshalb wiedererkannt zu werden). Die aufgetakelte Spießerin vom Anfang wird zur Vorgesetzten von Simin, der Mann der Spießerin (Christopher McDonald) zu einem köstlich manieristisch (»God’s message-eh, Jesus Christ-eh«) predigenden Guru, Simins Mutter (Nicole Ansari-Cox) zu einer mexikanischen Bediensteten. Und einer von Simins Verehrern, ein schlemihlhafter Dichter (William Moseley), ist tatsächlich, wie er sagt, »überall und nirgends«. Mit den Traum-Räumen lösen sich die Figuren auf, die sie geträumt haben.

Simin scheint sich gegen diesen Zerfall zu stemmen, sie interessiert sich für Familienfotos, eigene und fremde, und legt am Ende in der Wüste eine große Spirale von Fotos aus, die eine Gemeinschaft anzudeuten scheint. Singt die Nachtigall also von einer Rückkehr ins Nest?

Der Wind weht auch Simins Fotos weg. In diesem Albtraumland, das, anders als Simin meint, nicht die Realität des Staates allein ist, kann sich niemand mehr niederlassen. Und die iranische Maoistentruppe – Shirin Neshat selbst spielt eine Generalin beim Unterricht – ist bloß Fake. Es ist in dieser aufgelösten Welt überhaupt alles Fake; ein Schrecken, der, das sei zugegeben, sehr sanft ist, aber einem doch ein Frösteln über die Haut treibt.

»Land of Dreams«: Deutschland/USA 2021. Regie: Shirin Neshat, Shoja Azari; Drehbuch: Shoja Azari, Jean-Claude Carrière. Mit: Sheila Vand, Matt Dillon, William Moseley, Isabella Rossellini, Robin Bartlett, Anna Gunn, Christopher McDonald, Joaquim de Almeida, Gaius Charles. 118 Min. Filmstart: 3.11.

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