Späte Gerechtigkeit

Beteiligte berichten vom Prozess gegen Wachmann im KZ-Sachsenhausen

  • Yannic Walther
  • Lesedauer: 4 Min.
Durch einen Sinneswandel wurden in den vergangenen Jahren auch noch hochbetagte ehemalige KZ-Wachmänner angeklagt wie Josef S.
Durch einen Sinneswandel wurden in den vergangenen Jahren auch noch hochbetagte ehemalige KZ-Wachmänner angeklagt wie Josef S.

„Er hat sich uns nicht wirklich erschlossen», sagt Udo Lechtermann. Bis zum Schluss sei Josef S. schlicht stur gewesen, so berichtet es der Vorsitzende Richter im Prozess gegen den ehemaligen Wachmann aus Brandenburg an der Havel. Fünf Jahre Haft wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 3500 Häftlingen im Konzentrationslager Sachsenhausen, so lautete das Urteil, das Lechtermann und das Schwurgericht Ende Juni sprachen. 

Der Anwalt von Josef S. ist mittlerweile am Bundesgerichtshof in Revision gegangen. Ob sein Mandant den Ausgang des Verfahrens noch erleben wird, ist unklar. Schon zum Urteilsspruch am Landgericht war er 101 Jahre alt. Bei einer Veranstaltung mit den Prozessbeteiligten, organisiert vom Dokumentationszentrum Topographie des Terrors, wird noch einmal deutlich, warum das Verfahren dennoch wichtig war.

„Gerechtigkeit kennt kein Verfallsdatum», sagt Thomas Walther, der die Nebenkläger, Überlebende des KZ und Angehörige, im Prozess vertreten hat. Den Kontakt zu ihnen hat er über die Gedenkstätte des KZ Sachsenhausen und mithilfe der stellvertretenden Leiterin Astrid Ley hergestellt, die selbst im Prozess gegen Josef S. als Sachverständige angehört wurde. „Einfach bei den Überlebenden zu klingeln und sich als deutscher Anwalt vorzustellen, gehört sich nicht», so Walther.

Astrid Ley erzählt, es hänge auch von der Erinnerungskultur in den jeweiligen Ländern ab, wie leicht sich Überlebende finden lassen. Sie bedauert, dass deshalb keine Betroffenen aus der ehemaligen Sowjetunion als Nebenkläger aufgetreten sind. Kontakte zu Organisationen von Überlebenden gäbe es vor allem nach Israel und Frankreich. 

Doch selbst unter den französischen Überlebenden war es anfangs nicht leicht, sie dazu zu gewinnen, sich der Nebenklage anzuschließen. Auch bei ihnen hätte sie das Argument gehört, dass der Angeklagte zu alt sei. Im Verfahren hätte sich dann herausgestellt, wie befreiend so ein Prozess für die Opfer des Nationalsozialismus sein kann. Manche hätten zum ersten Mal vor einem deutschen Gericht das Unrecht schildern können, das ihnen widerfahren ist. „Alle hatten darauf gehofft, dass Josef S. am Ende sagt: Ich bin da gewesen und es tut mir leid. Dass das nicht passiert ist, hat bei den Überlebenden einen fahlen Beigeschmack hinterlassen», so Ley. 

Dass überhaupt ehemalige Wachmänner von Konzentrationslagern verurteilt werden, liegt an einem späten Sinneswandel der deutschen Justiz. Lange Zeit war man der Auffassung, dass eine konkrete Tatbeteiligung nachgewiesen werden muss. Verfolgt wurden nur Befehlshaber, die Leitung eines KZ oder sogenannte Exzesstäter. „Dass allein auf dem Wachturm zu stehen nicht verfolgt wurde, hat dazu geführt, dass am Ende alle meinten, auf dem Wachturm gestanden zu haben und die Juden unten allein waren», beschreibt Nebenklagevertreter Thomas Walther die Konsequenz dessen. Erst mit dem Verfahren gegen den Wachmann John Demjanjuk änderte sich 2011 etwas, er wurde auch ohne konkreten Tatnachweis wegen der Beihilfe am Mord verurteilt, weil er Teil der Vernichtungsmaschinerie war. 

Nicht wenige Angeklagte verteidigten sich in den vergangenen Jahrzehnten mit der Argumentation, dass sie selbst in ein Lager gekommen wären, wenn sie ihren Dienst in einem KZ verweigert hätten. Der Historiker Stefan Hördler, Sachverständiger im Prozess gegen Josef S., widerspricht dem: „Grundsätzlich stand allen frei, sich wegzubewerben. Ich habe niemanden gefunden, der deswegen einen persönlichen Schaden erfahren hat.» 

Hördler kann durch seine Forschung für jedes Konzentrationslager Versetzungsanträge nachweisen. Diese gehen durch alle Hierarchien, auch führendes Personal, das die Konzentrationslager nach 1933 mit aufgebaut hat, habe sich teils zum Ende des Krieges versetzen lassen. Diesen Anträgen sei man auch nachgekommen. „Die SS wollte in der Stube keine Zweifel aufkommen lassen», sagt Hördler. Es sollte kein Sand in die Vernichtungsmaschinerie kommen, der Korpsgeist nicht geschwächt werden.

Jene, die Wachdienst im Konzentrationslager hatten, hätten das „wissentlich und willentlich» getan, ist auch Thomas Walther überzeugt, der über die Jahre in mehreren Verfahren Nebenkläger vertreten hat. „Schließlich fielen nirgendwo weniger Bomben als auf Konzentrationslager wie Sachsenhausen.»

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