»Ein neuer NSU wäre hier möglich«

Jakob Springfeld über das Erinnern an den NSU-Komplex und politisches Engagement in Zwickau

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.
Rechtsextremismus: »Ein neuer NSU wäre hier möglich«

Wir treffen uns am Gedenkort am Schwanenteich in Zwickau, an dem zehn Bäume für die Opfer der rechten Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) gepflanzt wurden. Was bedeutet er Ihnen?

Interview

Jakob Springfeld arbeitete in Zwickau ab 2015 in der Flüchtlingshilfe, er war bei Fridays for Future und in der Grünen Jugend aktiv und kümmert sich um das Erinnern an den NSU-Komplex. Für sein zivilgesellschaftliches Engagement wurde er 2020 mit der Theodor-Heuss-Medaille ausgezeichnet. Unlängst erschien sein Buch »Unter Nazis. Jung, ostdeutsch, gegen Rechts«. Derzeit
studiert er in Halle.

Ich finde es wichtig, dass in Zwickau an die Menschen erinnert wird, die dem NSU zum Opfer gefallen sind. Hier lebte das NSU-Kerntrio schließlich elf Jahre im Untergrund, bevor am 4. November 2011 erst Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach einem Banküberfall in Eisenach tot in einem Wohnmobil gefunden wurden und dann Beate Zschäpe den Unterschlupf in der Frühlingsstraße 26 in Brand setzte. Die Geschichte des Gedenkortes sagt aber auch viel über Schwierigkeiten des Gedenkens. Ein erster Baum, der hier für Enver Şimşek gepflanzt worden war, wurde im Oktober 2019 umgesägt, eine Bank daneben zertreten. Seither sind zehn Bäume neu gepflanzt worden. Das ist gut. Andererseits ist es natürlich »nur« ein symbolischer Ort, der noch nichts an den Einstellungen der Menschen ändert. Leider fehlt es auch an Informationen über den NSU. Es gibt kleine Metallplatten zu Füßen der Bäume, aber auf drei größeren Tafeln, die unmittelbar neben den Bäumen stehen, geht es um schützenswerte Tier- und Pflanzenarten am Schwanenteich. Ich würde mir eher Aussagen dazu wünschen, wie es sich anfühlt, etwa als Migrant in einer Stadt wie Zwickau aufzuwachsen. Auch sollten die Angehörigen der NSU-Opfer mit einbezogen werden.

Sie sind in Zwickau groß geworden, in einem gutbürgerlichen deutschen Elternhaus. In einem Buch, das unlängst erschienen ist und in dem Sie Ihr politisches Engagement schildern, schreiben Sie, der NSU-Komplex präge Sie wie kein anderes Ereignis der jüngeren deutschen Geschichte. Warum ist das so?

Ein Grund ist sicherlich räumliche Nähe. Um nur ein Beispiel zu nennen: In der Grundschule war ich in eine Klassenkameradin namens Linh verliebt. Später fand ich heraus, dass ihre Familie, die aus Vietnam stammt, zeitweise Wand an Wand mit den NSU-Tätern in deren erster Zwickauer Wohnung lebte. Im weiteren Sinne belegt der NSU-Komplex aber für mich auf besonders krasse Weise, in welche Gewalt rechtsextremes Gedankengut münden kann. Die Sicherheitsbehörden waren ja Teil des Problems. Weil sie aufgrund rassistischer Ansätze ermittelten, statt die Angehörigen zu unterstützen. Das zeigt, dass man sich nicht allein auf staatliche Institutionen verlassen sollte, wenn es darum geht, die wehrhafte Demokratie zu verteidigen. Und schließlich führt das Thema NSU vor Augen, wie wenig ehrlich die Gesellschaft mit derlei Problemen umgeht. Zwickau schmückt sich gern mit Titeln wie Automobil- oder Robert-Schumann-Stadt; mit dem NSU wollen viele hier lieber nichts zu tun haben. Aber das Problem lässt sich nun einmal nicht kleinreden.

Das Kerntrio des NSU zog im Jahr 2000 nach Zwickau, im Jahr, in dem Sie geboren wurden. Als Zschäpe das Feuer in der Frühlingsstraße 26 legte, waren Sie elf. Wann sind Sie erstmals bewusst mit dem Thema konfrontiert worden?

Ich meine mich zu erinnern, die Ruine des ausgebrannten Hauses in der Frühlingsstraße gesehen zu haben, als ich mit meinen Eltern zu Bekannten fuhr, die in der Nähe wohnen. Aber von den Morden und der Verbindung des NSU zu Zwickau wusste ich lange nichts, auch weil das in der Schule damals schlicht noch kein Thema war. Aufgerüttelt hat mich erst, dass dann 2019 der Baum umgesägt wurde. Da war ich in der 11. Klasse. Man konnte also selbst in Zwickau aufwachsen, ohne mit dem Thema konfrontiert zu werden. Inzwischen steht es in meinem ehemaligen Gymnasium im Lehrplan, und die Schule hat eine Patenschaft für einen der zehn Bäume übernommen. Das sind kleine Schritte in die richtige Richtung.

Als der Baum umgesägt wurde, haben Sie mit Mitschülern spontan eine Gedenkminute organisiert. Warum?

Ich war damals sehr energiegeladen und hoffnungsvoll. Wir waren hier in Zwickau mit Fridays for Future auf der Straße: junge Leute, die etwas gegen die Klimakrise tun wollten. Das war ein schönes Gefühl, aber hat nicht für Schlagzeilen aus Zwickau gesorgt. Die gab es dagegen bundesweit, als der Baum und die Bank zerstört wurden. Wir wollten ein Zeichen setzen und zeigen: Auch hier in der Stadt gibt es junge Menschen und eine Zivilgesellschaft, die so einen Mist nicht wollen.

Nachdem der NSU aufgeflogen war, betonten viele in Zwickau, das Trio sei eher zufällig in der Stadt untergetaucht. Für wie naheliegend halten Sie die Ortswahl?

Ich hätte sie früher sicher auch für zufällig gehalten. Ich bin behütet und privilegiert aufgewachsen, war nie von Diskriminierung betroffen, ging zur Christenlehre, spielte Trompete im Orchester, traf meine Freunde beim Fußball – ein ganz normales Kleinstadtleben. Erst später habe ich entdeckt, wie stark und gut vernetzt die Nazi-Szene hier ist, und gedacht: Krass, wie das parallel zu meinem Leben und von mir unbemerkt passieren kann. Es gab hier Strukturen, die es dem NSU erlaubten, unentdeckt unterzutauchen. Und viele Personen, die ihnen das ermöglicht haben, sind noch immer aktiv. Wenn man mich fragt, ob so etwas in Zwickau wieder möglich wäre und ein neuer NSU gute Bedingungen vorfände, um hier unterzutauchen, würde ich sagen: Ja. Tut mir leid, das zu sagen, aber es ist so.

Sie haben selbst unliebsame Erfahrungen mit Rechtsextremen machen müssen, anfangs durch Engagement für Flüchtlinge, dann durch Aktivitäten zum NSU-Gedenken. In Ihrem Buch mit dem Titel »Unter Nazis« heißt es über Zwickau: »Wenn du hier politisch wirst, ändert sich alles.« Was genau wird da anders?

Man wird von rechts angefeindet, nach Demonstrationen, auf dem Heimweg von Konzerten, selbst beim Einkaufen mit der Familie. Das trifft ja nicht nur mich. Kürzlich fand der Christopher Street Day in Zwickau statt, eine tolle Veranstaltung mit Hunderten Teilnehmern. Aber auch da wurden wieder Menschen auf dem Weg nach Hause von Nazis gejagt. Ich möchte mit dem Buch keine Heldengeschichte erzählen, sondern darauf aufmerksam machen, mit welchen Konsequenzen politisches Engagement gegen Menschenfeindlichkeit in einer Stadt wie Zwickau behaftet ist. Das bedeutet Stress. Wenn ich das vor fünf Jahren geahnt hätte: Ich weiß nicht, wie ich mich entschieden hätte. Heute bin ich zwar froh, dass ich den Weg gegangen bin. Man findet immer Solidarität und Verbündete. Aber ich kann auch zunehmend nachvollziehen, warum sich Menschen in einer Stadt wie Zwickau nicht öffentlich positionieren wollen. Man muss jedoch hinzufügen: Ich habe mich entschieden, mich zu engagieren. Andere Menschen werden bedroht wegen ihrer Herkunft, die sie sich nicht ausgesucht haben. Auch das führt ja der NSU-Kompex vor Augen.

Was würden Sie sich wünschen für die Erinnerung an das Morden des NSU und das Gedenken an die Opfer?

Ich halte es für extrem wichtig, dass ein Bildungs- und Dokumentationszentrum errichtet wird. Die Forderung steht ja seit Jahren im Raum. Jetzt gibt es Zusagen in den Koalitionsverträgen im Bund und in Sachsen; derzeit wird an einer Konzeption gearbeitet. Eine Idee wäre, das Zentrum in Form einer Stiftung zu errichten und Außenstellen an mehreren Orten zu schaffen – das fände ich gut. Zwickau sollte sich dazu bekennen, ein Ort der Aufarbeitung zu werden. Derzeit heißt es oft: Bevor wir konkrete Schritte unternehmen, müssen wir alle Bürger ins Boot holen, bis hin zu AfD-Anhängern. Aber man kann nicht ewig warten. Kürzlich gab es in Zwickau immerhin die erste Veranstaltung eines Bürgerdialogs zum NSU. Das ist gut. Aber es sind seit dessen Auffliegen eben auch schon elf Jahre vergangen. Und der Titel der Veranstaltung ist: »(Wie) wollen wir den NSU-Komplex aufarbeiten?« Da schwingt ja immer noch die Frage mit, ob das überhaupt notwendig ist. Das will mir nicht in den Kopf.

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