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Nicht der Mangel war das Problem

Ein neuer Band widmet sich der Geschichte der Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke

  • Matthias Krauß
  • Lesedauer: 5 Min.
Schülerspeisung in der Kantine eines Volkseigenen Betriebs
Schülerspeisung in der Kantine eines Volkseigenen Betriebs

Wie begeht ein Institut seinen 30. Geburtstag, wenn seine Forschungen doch auf das Jahr 1946 zurückgehen? Möglich ist das, wenn Wissenschaftsgeschichte gleichzeitig deutsche Geschichte ist. Das heutige Deutsche Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke blickt in diesem Jahr auf 30 Jahre Arbeit zurück. Tatsächlich reichen die Wurzeln der Ernährungsforschung an diesem Ort in die Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der neu erschienene Sammelband »Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke« gibt nun Einblicke in die wechselvolle Entwicklung dieser Wissenschaftseinrichtung – bis hin zur heutigen »klaren Ausrichtung auf die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Gesundheit«, wie es im Vorwort heißt. 

Ein Institut muss auf der Höhe der Zeit sein. Dringende gesellschaftliche Probleme wie Untersuchungen zu Übergewicht, Diabetes Typ 2 oder zur Ernährung im Alter sind dabei Hauptthemen. »Aber auch so grundlagenorientierte Fragen wie: Was bestimmt unsere tägliche Nahrungsauswahl?« Künftig sollen auch Nachhaltigkeitsaspekte der gesunden Ernährung eine zunehmende Rolle spielen. Die Vorträge bei der Jubiläumsfeier trugen dann auch Titel wie: »Warum werden wir dick? Alles Kopfsache?« und »Von ›Dickmacher-Genen‹ und unerwarteten Fetteinlagerungen«. Aber auch: »Ernährungsmuster im globalen Kontext – gibt es eine Lösung für alle?«

Das unterscheidet sich in der Tat deutlich von den Forschungsschwerpunkten der Ernährungsforscher in den ersten Jahren nach dem Krieg. Damals wurde in Deutschland gehungert, Mangelernährung war folglich weitverbreitet. In jenen Phasen »bestimmten das Füllen von Versorgungsengpässen und der Nährstoffmangel die Forschungen«, heißt es in der Festschrift. In den späteren DDR-Jahren wurden dann »Untersuchungen zu Lebensmitteln und zur Lebensmittelentwicklung«, aber auch medizinorientierte Forschungen betrieben.

So verschieden die Ansätze auf den ersten Blick erscheinen mögen, gibt es doch unübersehbare Kontinuitäten, so Mitautorin Judith Schäfer mit Blick auf den Nachhaltigkeitsgedanken: »Waren in den ersten Jahren nach dem Krieg die Potsdamer Ernährungsforscher damit befasst, neue Nahrungsquellen zu erschließen und Ersatzstoffe zu finden, so zwingt die Zunahme der Weltbevölkerung heute ebenfalls, die künftige Ernährung auf bislang ungewohnte Weise sicherzustellen (Insekten, Pflanzenproteine).«

Der Befehl 169 der sowjetischen Besatzungsmacht vom 10. Juni 1946 verfügte die Gründung eines Instituts für Ernährung und Verpflegungswissenschaft – damals auch noch mit einer Zweigstelle in Berlin-Dahlem. Während die Dahlemer Einrichtung auf Beschluss der Berliner Stadtverordnetenversammlung 1950 wieder aufgelöst wurde, blieb die Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke bestehen. 1989 arbeiteten hier rund 600 Menschen.

Für Judith Schäfer ist nach vierjähriger Arbeit an diesem Buch vor allem das Führungspersonal der »ersten Stunde« bemerkenswert. »Alle hatten Lebens- und Berufswege schon vor 1945.« Es gab den Ernährungswissenschaftler Wilhelm Ziegelmayer als Gründerfigur, in Hitlerdeutschland Leiter der Abteilung für Verpflegung, Beschaffung und Nachschub im Heeresverwaltungsdienst, der sich von den Nazis ferngehalten haben will. Er genoss das Vertrauen der Sowjets, verlor aber im Laufe der Jahre Positionen und an Einfluss. 

Und dann war da der Veterinär Arthur Scheunert, jahrelang das Gesicht des Instituts und später DDR-Nationalpreisträger. Der Band dokumentiert Scheunerts Menschenversuche im Dritten Reich, die unter anderem an Häftlingen des Zuchthauses Waldheim, Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen vorgenommen worden waren. Noch heute lautet die Adresse des Instituts Arthur-Scheunert-Allee. 

Zugeordnet der Akademie der Wissenschaften der DDR wurde 1970 das Zentralinstitut für Ernährungsforschung gebildet. Es genoss, so der Band, eine hohe Reputation in der DDR und pflegte viele wissenschaftliche Kontakte – überwiegend zu einschlägigen Einrichtungen in den sozialistischen Ländern. Das Forschungsprofil war »Made in GDR«. So stand die möglichst gesunde Gemeinschaftsverpflegung im Vordergrund, ob in Betrieben oder Ferienheimen, aber auch die Essensversorgung in Kindergärten und Schulen. 

Der Mangelvorwurf, wie er gegenüber der DDR immer wieder erhoben wird, will für Mitautorin Schäfer an dieser Stelle nicht so recht passen – schließlich war ab den 60er Jahren eher der Überfluss an Fleisch und Fett ein Problem, mit dem sich die Ernährungsforschung in der DDR auseinanderzusetzen hatte. Wohlstanderscheinungen wie Dickleibigkeit und Zuckerkrankheit, ernährungsbedingte Nierenleiden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen verstärkten sich. Schäfer zufolge wurde Großartiges geleistet – unter anderem in der Aromaforschung und bei der Kindernahrung. Am Beispiel der Baby-Ersatznahrung Manasan dokumentiert ihr Band aber auch, wie schwer es damals war, solche Erkenntnisse in die Praxis der Großproduktion zu überführen.

Der veraltete Apparatepark und technischer Rückstand behinderten auch in den 80er Jahren zunehmend die Forschung. Im Zuge der Wende waren viele Wissenschaftler bemüht, sich mit neuen Konzepten zu behaupten. Unter anderem wurde damals kompostierbares Geschirr vorgestellt.

Die erfolgreiche Evaluierung durch den Wissenschaftsrat sicherte der Einrichtung schließlich ihr Überleben. Ein Rechtsnachfolger des DDR-Instituts war das ab dem 1. Januar 1992 tätige Deutsche Institut für Ernährungsforschung ausdrücklich nicht, das zwang viele Mitarbeiter zur Neubewerbung um einen zuvor verlorenen Arbeitsplatz. »Für nicht wenige bitter«, merkt Judith Schäfer an. Die Zahl der am Standort Tätigen ging auf ein Drittel zurück.

Die inzwischen pensionierte Wissenschaftlerin muss zur Kenntnis nehmen, dass die Erkenntnisse, bezogen auf eine gesunde Ernährung, immer vertiefter daherkommen, das reale Essverhalten vieler Zeitgenossen aber im Widerspruch dazu steht. Sie hält es für bedenklich, dass bestimmte Formen einer einseitigen Ernährung schon verbissene Züge annehmen, vor allem, wenn die eigenen Kinder einem diesbezüglichen Katechismus unterworfen würden. Von sogenannten Smoothies hält sie nicht viel: »Die Kinder haben doch Zähne.« 

Die Wissenschaft sehe sich auch mit dem Problem konfrontiert, dass ein bestimmtes Ernährungsverhalten bei dem einen Menschen unbedenklich sei, beim anderen aber nachteilige Wirkungen habe. Es wäre vermutlich besser, nicht jeder Mode auf diesem Feld kritiklos hinterherzurennen, sagt Judith Schäfer. 

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