Kürzungen: Bildungspolitischer Rollback

Freie Träger der Jugend- und Sozialarbeit zeichnen düstere Zukunft bei Linke-Fachgespräch

Eine Projektarbeit gegen Antisemitismus in einer Neuköllner Schule. Solche und viele weitere Projekte sind gefährdet.
Eine Projektarbeit gegen Antisemitismus in einer Neuköllner Schule. Solche und viele weitere Projekte sind gefährdet.

Selten sind Fachgespräche darauf ausgelegt, dass sich die Teilnehmenden einig sind. Was bedeutet es dann, wenn ein ganzer Saal sich gegenseitig bestärkt, die Beispiele der Vorredner*innen aufgreift, sich gegenseitig zustimmt? Was gibt es da noch zu diskutieren? Vielleicht, wie schlimm es wirklich wird.

Der Saal 376 im Berliner Abgeordnetenhaus ist am Dienstagabend voller Menschen. Mitarbeiter*innen von Trägern der Jugend- und Sozialarbeit an und um Schulen sorgen sich um die Zukunft der Kinder und Jugendlichen in Berlin. Sie fürchten um deren Ausbildung, soziale Betreuung, um kulturelle Bildungsangebote, Integrations- und Inklusionsprogramme. Sie fürchten aber auch um ihre eigenen Jobs und das Fortbestehen von jahrelang mühsam aufgebauten Netzwerken aus Schulen und Partnern. Kurz: Sie sehen in den geplanten Haushaltskürzungen in ihrem Bereich einen »bildungspolitischen Rollback«. So formuliert eine Betroffene, was am Dienstag wohl viele im Raum meinen: das Ende jahrzehntelanger Bemühungen um ganzheitliche Bildung in Berlin.

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Franziska Brychcy (Linke) hatte zu dem Fachgespräch geladen, Thema: »Schwarz-Roter Kahlschlag bei Bildung, Jugend und Familie – Linke Alternativen zum Kürzungschaos«. Es geht um plötzlich eingestampfte soziale und kulturelle Projekte, Schulsozialarbeiter*innen, die gehen müssen, Stellen für Lehrer*innen, die nicht mehr besetzt werden können. Es geht aber auch um Ideen, die dafür sorgen könnten, dass die kommenden Jahre weniger geprägt sind von Einschränkungen der Angebotsvielfalt.

Verantwortlich für die dramatische Lage sei die »kurzsichtige Kürzungspolitik des schwarz-roten Senats«, so formuliert es der Sprecher der Linken für Haushalt und Finanzen, Steffen Zillich. Nachdem 2025 bereits 360 Millionen Euro weggefallen sind, sieht die bisherige Planung für den Doppelhaushalt 2026/2027 im Ressort Schule, Jugend und Familie 140 Millionen Euro an Einsparungen pro Jahr vor.

»Viele Betroffene haben das so nicht vorhergesehen und viele wurden sehr kurzfristig vor diese Situation gesetzt«, sagt Brychcy, die zu Anfang die prekäre Lage in Berlin in diesem Jahr zusammenfasst. Das ist ein Vorwurf, den fast alle Betroffenen an diesem Abend teilen werden: die intransparente und scheibchenweise Kommunikation von Streichungen Anfang des Jahres, die noch immer lückenhaft sei.

Erst Anfang Mai etwa kam heraus, dass mit Beginn des Schuljahrs 2025/26 etwa 1000 Plätze beim Projekt Praxislernen entfallen sollen, also etwa die Hälfte. Das ist ein praxisnahes Unterrichtsangebot freier Träger, das benachteiligten Schüler*innen hilft, den Schulabschluss zu schaffen. Noch immer wissen nicht alle Träger, ob sie betroffen sein werden, da Stand jetzt noch nicht alle Bezirke ausfinanziert sind. »Wir arbeiten mit fünf Schulen in einer Kooperation zum Praxislernen«, sagt Schulleiter Thorsten Gruschke-Schäfer von der Clay-Schule in Neukölln. »An meiner Schule wären im nächsten Jahr zehn, 15 Schüler ohne Perspektive dort hingegangen. Da wird so tolle Arbeit geleistet, die hätten am Ende alle einen Abschluss bekommen. Im nächsten Jahr verlassen die Schule durch die Kürzungen zehn Schüler ohne Schulabschluss.« Gruschke-Schäfer sagt, das sei »Raubbau an unseren Kindern und Jugendlichen.«

»Keiner weiß, was gekürzt wird und wann«, so auch Benjamin Adler vom freien Träger Tandem BTL. »Die Kürzungen sind auch nicht fachlich begründet, sondern einfach Kettensäge«, sagt er. Seinem Träger, der ein Familienzentrum an einer Neuköllner Schule betreibt, wurde Ende 2024 die Grundfinanzierung von 120 000 Euro auf 88 750 Euro reduziert. In den Berliner Familienzentren finden Eltern Beratung und Unterstützung zu Themen wie Handynutzung, gewaltfreie Erziehung oder Umgang mit Trennung. Insgesamt wurde dem Modellprojekt ein Viertel des Budgets gekürzt – es ist ungewiss, ob es bestehen kann.

»Im nächsten Jahr verlassen meine Schule durch die Kürzungen zehn Schüler ohne Schulabschluss.«

Thorsten Gruschke-Schäfer Schulleiter Clay-Schule

Zu den geplanten Kürzungen gebe es aber durchaus Alternativen, die sich weniger drastisch auf Bildung und Sozialarbeit auswirken würden, so Steffen Zillich. Um den Landeshaushalt zu stabilisieren, schlägt die Linke drei Säulen vor: Durch einen Pakt des Senats mit sozialen Trägern sollen Prioritäten bei Bildungsinvestitionen gesetzt werden, um Ausgaben vorausschauender planen zu können. Der Landeshaushalt soll durch die Streckung von Tilgungsplänen und kreditfinanzierter Investitionen stabilisiert werden. Zusätzlich sollen die Einnahmen durch eine faire Steuerpolitik – unter anderem durch eine Erhöhung der Grunderwerbsteuer auf 6,5 Prozent – gesteigert werden. »Es gibt auch haushaltspolitisch Alternativen«, sagt er.

Was die Linke vorschlägt, will sie mit Druck auf politischer Ebene einbringen. Doch der Abend war noch auf einer anderen Ebene wichtig für die Träger: Probleme wurden detailreicher an die Opposition getragen und auch untereinander vertiefte sich der Erfahrungsaustausch.

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