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Berlin: Fachkräftemangel an Kitas verdrängt autistische Kinder
Der Fachkräftemangel an Berliner Kitas verdrängt autistische Kinder aus den Einrichtungen
Wenn andere Kinder in der Kita sind, ist Daniel mit seinen Eltern auf dem Spielplatz. »Nach sechs Monaten in der Kita wurde der Vertrag gekündigt, mit der Begründung, dass mein Sohn besondere Bedürfnisse hat«, sagt Faezeh Babaei. Damals war Daniel drei Jahre alt, bei ihm wurde später »frühkindlicher Autismus« diagnostiziert. Seitdem durfte er keine Kita besuchen. Denn immer, wenn die Eltern den Kitas von der Diagnose erzählten, hieß es laut Babaei von dort: »Autismus? Nein, damit können wir nicht umgehen.«
Frühkindlicher Autismus ist eine Unterkategorie des Autismus-Spektrums. Die Bezeichnung Spektrum deckt die Vielzahl verschiedener Symptome, Ausprägungen und Fähigkeiten der betroffenen Menschen ab. Zu den Symptomen gehören Schwierigkeiten, soziale und emotionale Signale zu erkennen oder mitzuteilen. Veränderungen in den Alltagsroutinen sind häufig eine große Belastung. Viele Kinder mit Autismus reagieren stärker oder schwächer auf Temperaturen, physischen Kontakt oder Geräusche. Die Datenlage zu der Krankheit ist dünn. Etwa ein Prozent der Kinder gelten in Deutschland als autistisch. Jungen sind etwa doppelt so häufig betroffen.
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Zwar haben Kinder wie Daniel einen formalen Anspruch auf eine Betreuung durch eine*n Integrationserzieher*in im Umfang von einer halben Stelle. Jedoch, so erklärt Bärbel Wohlleben vom Berliner Ableger des Lobby-Vereins Autismus Deutschland, bräuchte eine Kita entsprechende Personalkapazitäten. »Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass Kinder häufig zu Hause bleiben müssen, weil das Personal krank ist oder für eine andere Gruppe abgezogen wurde«, so Wohlleben.
»Ein zentrales Problem stellt der Mangel an spezialisierten Fachkräften dar. Viele pädagogische Fachkräfte in Berliner Kitas haben keine gezielte Ausbildung oder Fortbildung dafür«, ergänzt Monika Lapinski, Inklusionsbeauftragte des sozialen Trägervereins Kleiner Fratz. Die Finanzierung zusätzlicher Fördermaßnahmen wie Integrationshilfen oder Einzelbetreuung müsse mittels aufwendiger Verfahren beantragt werden und würde am Ende mitunter auch abgelehnt oder nicht langfristig gewährt.
»Es braucht endlich einen verbindlichen Rahmen statt bürokratischer Hürden: verpflichtende Autismus-Fortbildungen, unbürokratische Inklusionshilfen und die Aufnahme der Autismuspädagogik ins Sozialgesetzbuch«, fordert Lars Békési, Geschäftsführer des Verbandes der Kleinen und Mittelgroßen Kitaträger.
Dass Kinder wie Daniel nicht in die Kita können, hat Folgen für sie und ihre Familien. Anfangs nahm Daniels Mutter Faezeh Babaei ihn noch zu ihrem Deutschkurs mit. Die Familie kommt aus dem Iran, Daniel selbst wurde während der Corona-Pandemie in einem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Moria geboren. Aber im Deutschkurs ist Daniel überfordert. Babaei musste den Kurs abbrechen.
Der vom Senat berufene Familienbeirat kritisiert in seinem aktuellen Bericht, dass Kinder wie Daniel auf der Strecke bleiben: »Der Mangel an Fachärzt*innen, therapeutischen Einrichtungen, passenden Kita- und Schulplätzen, aber auch die oft ungenügende Verantwortungsübernahme in den zuständigen Behörden führen in vielen Fällen dazu, dass Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedarfen nur zeitlich vermindert oder gar nicht Kita oder Schule besuchen können. Ihr Recht auf Bildung und Teilhabe wird in diesen Fällen nicht umgesetzt.«
Den Mangel an Verantwortungsübernahme der Behörden kennt Babaei aus ihrem Alltag. Zwar habe sie Kontakt zum Jugendamt, dort fehle es aber an Fachwissen. So wurde ihr gesagt, dass sie ihr soziales Leben ausbauen soll. Das würde Babaei auch gerne. Sie würde sich gerne ausruhen, Sport machen, ihren Deutschkurs abschließen und eine Aus- oder Fortbildung beginnen. Aber das ist ohne Unterstützung nicht möglich. »Sie verstehen meine Situation einfach nicht«, fasst Babaei zusammen. Dabei fehlt es nicht nur an Zeit und Geld.
In Kitas und Schulen brauchen autistische Kinder mehrere Maßnahmen, um dort lernen und sich wohlfühlen zu können. Dazu gehört die Anpassung der Umgebung hin zu reizarmen Räumen, so Lapinski. »Daneben spielen Struktur und Rituale eine wichtige Rolle: Klare Tagesabläufe, feste Regeln und Rituale bieten den Kindern Sicherheit und Orientierung im Alltag.« Wichtig sei es, die Eltern einzubeziehen, damit diese die Fördermethoden auch zu Hause anwenden können.
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