»Seenotrettung ist Pflicht«

Petra Krischok von der »Humanity 1« wehrt sich gegen die Schikanen durch die italienische Regierung

  • Melanie Klimmer
  • Lesedauer: 5 Min.
Petra Krischok ist Pressesprecherin von »SOS Humanity«.
Petra Krischok ist Pressesprecherin von »SOS Humanity«.

Sie sind am 18. Oktober von Palermo aus mit dem deutschen Rettungsschiff »Humanity 1« ins zentrale Mittelmeer aufgebrochen. Wie viele Menschen waren nach den Rettungseinsätzen an Bord?
Wir hatten 180 Überlebende an Bord. Ein Mann musste evakuiert werden. 105 Personen waren unbegleitete Minderjährige, darunter drei sehr junge Frauen. Eine von ihnen ist Mutter eines sieben Monate alten Babys, das wir ebenfalls in Sicherheit bringen konnten. Wir haben die Menschen am 22. und 24. Oktober in drei Einsätzen von seeuntauglichen Booten aus Seenot gerettet. Besonders die Rettung von 113 Menschen von einem Schlauchboot, das bereits Luft verlor, war schwierig. Niemand trug eine Rettungsweste.

Wie ging es den Überlebenden?
Die meisten befanden sich in einem schlechten Gesundheitszustand. Die Jugendlichen waren erschöpft, dehydriert, durchnässt und unterkühlt. Viele von ihnen waren auch psychisch belastet und traumatisiert von Monaten in libyschen Internierungslagern. Die Mehrzahl berichtete von Folter oder wiederholter Gewalt. Ein 17-Jähriger erzählte uns, wie er in Libyen in ständiger Lebensgefahr gewesen sei. Jeder, dem er begegnete, trug eine Waffe. Misshandlungen oder auch die Erschießung von Geflüchteten sind an der Tagesordnung. Einige Jugendliche hatten in der Nacht, bevor unsere Crew ihr stark überbesetztes Boot fand, mitansehen müssen, wie Freunde und Familienmitglieder ins Wasser fielen und sechs von ihnen ertranken. An Bord haben wir ihrer in einer Trauerzeremonie gedacht.

Der italienische Innenminister Matteo Piantedosi hatte unmittelbar nach seiner Amtseinführung gesagt, die »Humanity 1« sei unrechtmäßig im Einsatz. War das berechtigt?
Nein, Seenotrettung ist Pflicht. Zivile Seenotrettung schließt die Lücke bestmöglich, die europäische Staaten bei der Seenotrettung hinterlassen haben. Ein Großteil der Zivilgesellschaft, die das Sterbenlassen nicht hinnehmen will, steht hinter uns. Wir halten uns dabei stets an geltendes Recht. Wenn ein Seenotfall auftritt, unterrichten wir umgehend die zuständigen Rettungsleitstellen (MRCC) und bitten um Koordinierung. Leider werden diese Bitten in der Regel ignoriert, und wir sind auf uns gestellt. Wenn man uns nun vorwirft, wir würden autonom retten, ist das eine Verdrehung von Tatsachen und trifft nicht zu.

Wie reagierten die MRCCs auf die Meldungen des »Humanity 1«-Kapitäns?
Wir unterrichteten die MRCCs in Italien und Malta während unseres Einsatzes täglich über die Geretteten, deren Vulnerabilität und die Situation an Bord – immer mit der Bitte um die Zuweisung eines sicheren Hafens. Wir stellten insgesamt 21 Anfragen nach einem »Port of Safety« , aber ohne Erfolg. Die Situation hatte sich zuletzt zugespitzt. Die rechtsgerichtete italienische Regierung erließ unmittelbar nach Amtseinführung am 27. Oktober ein Dekret, das private Seenotrettungsschiffe mit Überlebenden an Bord aus italienischen Territorialgewässern und Häfen verbannen soll – unterzeichnet vom neuen Innen-, Verteidigungs- sowie Verkehrs- und Infrastrukturminister. Als wir Ende der vergangenen Woche wegen eines Sturmes näher an Siziliens Küste Schutz suchen mussten, wurde uns von Innenminister Piantedosi unterstellt, wir wollten ohne Erlaubnis nach Catania fahren. Dabei war diese vorübergehende Annäherung mit der Hafenbehörde in Catania abgesprochen. Am Abend danach wurden wir überraschend in den Hafen von Catania beordert – ohne dass wir, wie sonst üblich, einen »Place of Safety« zugewiesen bekommen hätten.

Was ist dann passiert, nachdem die »Humanity 1« in den Hafen von Catania eingelaufen war? Konnten alle Überlebenden von Bord gehen?
Am Samstagabend ließen die Behörden lediglich die Ausschiffung von 143 Seenot-Überlebenden im Hafen zu. Alle Minderjährigen konnten im Laufe der Nacht problemlos das Schiff verlassen. 35 Erwachsenen wurde es dagegen nicht erlaubt, an Land zu gehen, nachdem sie einer oberflächlichen, individuellen medizinischen Begutachtung unterzogen worden waren. Wir wurden Zeugen einer schockierenden, unwürdigen und für die zivile Seenotrettung beispiellosen Aussortierung von Menschen. Sie traf die Überlebenden zutiefst. Einige Stunden nach dem Ende dieser Prozedur wurde unser Kapitän aufgefordert, den Hafen wieder zu verlassen und das Schiff in internationale Gewässer zu steuern. Das hat er verweigert. Er berief sich unter anderem auf das internationale Seerecht, nach dem eine Rettung erst dann abgeschlossen ist, wenn alle Überlebenden an einem sicheren Ort ausgeschifft worden sind. Er berief sich weiter auf das Recht der Menschen auf internationalen Schutz sowie seine Verantwortung als Kapitän für die Sicherheit aller Menschen an Bord, denn Verzweifelte unter ihnen könnten sich selbst verletzen, wenn sie befürchten müssten, wieder zurück nach Libyen gebracht zu werden. In jedem Fall aber wäre es ein illegaler Pushback, wenn wir mit ihnen wieder in internationale Gewässer zurückführen.

Die 35 Menschen haben inzwischen das Schiff verlassen. Was hat »SOS Humanity« zuvor unternommen?
Wir haben rechtliche Schritte eingeleitet. Zum einen haben wir vor dem Verwaltungsgericht in Rom in einem Eilverfahren Berufung gegen das widerrechtliche Dekret eingelegt, das die Grundlage für die Verweigerung eines sicheren Hafens für alle unsere Geretteten ist. Zum anderen hatten wir einen italienischen Rechtsbeistand für die 35 Menschen an Bord organisiert. Der Anwalt hatte alle über ihre individuellen Rechte aufgeklärt, internationalen Schutz zu beantragen. Er hatte für alle, die ihr Recht wahrnehmen wollten, am Montag einen Antrag beim Zivilgericht in Catania eingereicht.

Unter welchen Umständen begeben sich diese Menschen auf die Flucht über das Meer?
Eine Flucht über das Mittelmeer ist für viele oft die einzige Möglichkeit, sich aus der Gewalt, Ausbeutung und willkürlichen Verhaftung in Libyen zu befreien. Die meisten Überlebenden, die wir von seeuntauglichen Holz- und Schlauchbooten gerettet haben, erzählen uns, sie wären lieber ertrunken, als noch einmal in eines der libyschen Internierungslager zurückgebracht zu werden. Libyen sei die Hölle, das wird immer wieder betont. Um die libyschen Internierungslager überhaupt verlassen zu können, müssen sie viel Geld bezahlen, und dann ein weiteres Mal an Schlepper, die sie auf die Boote bringen. Unter denen, die wir im Oktober gerettet haben, gab es viele, die bereits ein- oder mehrmals versucht hatten zu fliehen, aber von der sogenannten libyschen Küstenwache zurück nach Libyen gebracht wurden.

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