Jetzt nicht die Nerven verlieren

Der Raketentreffer in Polen darf nicht als Vorwand für eine Eskalation des Ukraine-Kriegs dienen

Wer geglaubt hatte, dass sich die Gefährdungen und der Grad der Konfrontation im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg kaum noch steigern ließen, sieht sich eines Schlechteren belehrt. Dass Raketenteile auf polnischem Territorium einschlugen und zwei Menschen töteten, hat für schrille Alarmstimmung gesorgt. Einerseits zu Recht, denn eine Eskalation dieses brutalen Krieges über die Ukraine hinaus, zudem noch auf das Gebiet eines Nato-Staats, hätte unabsehbare Folgen. Andererseits ist noch nicht klar, was da genau aus welchem Grund diesseits der polnischen Grenze eingeschlagen ist.

In diesem Zusammenhang ist es interessant, wer die Nerven behält und wer die erschreckende Nachricht sofort für seine Propaganda benutzt. Beide Kriegsparteien zeigten umgehend auf die gegnerische Seite, ohne dass bisher Untersuchungsergebnisse vorlägen. Der ukrainische Präsident Selenskyi beschuldigt Moskau, Polen anzugreifen; sein Außenminister fordert eine harte Reaktion des Westens. In Moskau hingegen wird von einer westlichen Provokation gesprochen; Ex-Präsident Medwedjew redet in diesem Zusammenhang eine erhöhte Wahrscheinlichkeit eines Dritten Weltkriegs herbei. Das sind – auf beiden Seiten – beängstigende Töne, die vor allem eines deutlich machen: Es ist brandgefährlich, wenn Politiker monatelang nur noch im geistigen Schützengraben hocken und ihre Reaktionsmuster nichts anderes mehr kennen als Sieg oder Niederlage, Angriff und Vergeltung.

Der Raketentreffer in Polen ist nicht der erste Fall, bei dem das Kriegsgeschehen die Grenzen der Ukraine überschreitet. Russische Marschflugkörper verletzten schon den Luftraum der Republik Moldau, russische Raketenteile schlugen auf moldauischem Territorium ein. Das sind Kollateralschäden, die andeuten, wie schnell aus diesem Krieg ein viel größerer Flächenbrand werden kann – zumal dann, wenn die Angriffe bis nahe an die Grenzen zu anderen Staaten ausgedehnt werden.

Da ist es beruhigend, dass Politiker in Polen, Deutschland, den USA und anderswo zunächst zurückhaltend reagierten. Es ist richtig, die Lage nicht noch zuzuspitzen, sondern sich erst einmal um sachliche Aufklärung zu bemühen. Sollten sich Vermutungen bestätigen, dass es sich bei den in Polen niedergegangenen Raketenteilen um Trümmer der ukrainischen Luftabwehr handelt, wäre der Kriegspropaganda aus Kiew und Moskau zumindest in diesem Fall der Boden entzogen. Und wenn nicht? Dann ist es trotz allem immer noch besser, die Nerven zu bewahren und den Krieg in Grenzen zu halten, als ihn fahrlässig oder sogar vorsätzlich auszuweiten. Schlimm genug ist es ohnehin schon, dass die russische Aggression derzeit vorsieht, so viel wie möglich ukrainische Infrastruktur zu zerstören – und das kurz vor Beginn des Winters. Das richtet sich nicht gegen das ukrainische Militär, gegen eine politische Führung oder was sonst an Kriegszielen deklariert wurde. Es ist die blindwütige Zerstörung eines Landes ohne Rücksicht auf die Menschen, die dort leben.

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