• Kultur
  • Flucht und Vertreibung

Zu Fuß? Zu Fuß. Allein? Allein

Christiane Hoffmann geht Hunderte Kilometer auf dem Fluchtweg ihres Vaters

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Geschichte beginnt am 22. Januar 1945, einem Montag, am Ende des Zweiten Weltkriegs in dem kleinen schlesischen Bauerndorf Rosenthal südlich von Breslau, heute heißt es Rózyna, Hier hört man seit geraumer Zeit den Lärm der russischen Artillerie näher und näher kommen. Noch befindet sich diese jenseits der Oder. Noch herrscht Krieg, aber deutsche Soldaten auf ihrem Rückzug haben das Dörfchen bereits erreicht.

Zahlreiche Rosenthaler – besorgt, alarmiert, voller Angst – packen für ihre Flucht in Richtung Westen. Doch den ganzen Tag über steht am Ortsausgang Bürgermeister und Parteimitglied Schütz und fuchtelt mit einer Pistole herum. Alle, die weg wollen, sind für ihn Landesverräter. Er ist bereit, jeden Flüchtenden eigenhändig zu erschießen. Erst in der Dämmerung erreicht ihn offenbar die Anweisung, den Weg freizugeben.

Ein Dorf macht sich auf die Flucht. Es wird rasch dunkel, um die 25 Grad minus müssen es sein. Der Jüngste von Hoffmanns, Vater der Autorin, ist neun Jahre alt, als seine Mutter verzweifelt versucht, das lahme Pferd vor einen Karren zu spannen, Proviant für Mensch und Tier sowie ein paar Habseligkeiten zusammenzusuchen. Auch den nagelneuen Matrosenanzug ihres Sohnes will sie mitnehmen, greift aber in der Aufregung nur die Hose. Das Oberteil bleibt zurück, es ist für immer weg.

In der Familie wird diese Geschichte später wieder und wieder erzählt werden. Später, als sie sich im schleswig-holsteinischen Wedel niederlässt, als sich die »alte« Heimat nur noch in den Bruchstücken der Erinnerungen finden lässt, als mancher überhaupt nicht über diese schreckliche Zeit sprechen will. Als der Neunjährige von damals bereits selbst Vater eines Kindes ist und das erste Jahrzehnt seines Lebens voll aus seinem Gedächtnis ausradiert zu sein scheint, inklusive der wochenlangen Odyssee durch den Süden des »alten« Deutschlands. Immer dabei sind der Hunger und die Angst.

Wer sich nicht erinnert, hat nichts verloren, schreibt seine Tochter in ihrem jüngst erschienenen Buch. Und wer nichts verloren hat, braucht auch nicht zu trauern. Aber ist es wirklich so? Christiane Hoffmann, erfolgreiche Journalistin, Auslandskorrespondentin, Ostspezialistin und derzeit Sprecherin der Bundesregierung, ist 75 Jahre nach ihrem Vater noch einmal auf genau der Fluchtstrecke gen Westen marschiert, um zu erspüren, was sie nicht mehr fragen konnte, oder worauf sie keine Antworten bekam.

An einem Januartag vor zwei Jahren, der zwar zwanzig Grad wärmer ist als 1945, aber dennoch nasskalt und ungemütlich, geht sie los. Sie macht sich auf einen Weg, der sie ihren Vorfahren näher bringt, auch wenn sie nicht mehr leben. Der sie an den Rand ihrer physischen Kräfte führt, ihre Psyche belastet und zehn neue Fragen aufwirft, wo er höchstens eine beantwortet. Der sie auf Zeitgenossen treffen lässt, die nichts von der Vergangenheit wissen wollten. Und der sie Demut lehrt, wenn sie in der Einsamkeit einem Wolf begegnet, rasenden Lastkraftwagen mit einem Sprung in den Straßengraben ausweichen muss oder sie sich in den Entfernungen verschätzt und auf ihren Tagesmärschen in die Dunkelheit gerät. Der sie aber auch Menschen aus dem Nachbarland kennenlernen lässt, die sie in ihr Haus bitten und mit ihrer Fürsorge und Solidarität wärmen.

Zwölf Millionen Männer, Frauen und Kinder waren 1945 auf der Flucht, in die sie Hitlerdeutschlands Größenwahn und Menschenverachtung getrieben hatte. Ein Vielfaches dieser Zahl, über 90 Milliarden Menschen, sind es heute weltweit. Diesen Gedanken wird man beim Lesen nicht los; anders als damals erfahren wir jetzt von diesen Qualen, diesem Leid. Ein beträchtlicher Teil derer, die flüchten, überleben nicht, ein anderer Teil von ihnen erleidet solche Grausamkeiten, dass es ihnen die Sprache verschlägt und dass noch die in Sicherheit geborenen Kinder Fluchttraumata davontragen.

Christiane Hoffmann hat das am Beispiel ihres Vaters eindrucksvoll beschrieben. Sie ging, so wenigstens ist ihre Hoffnung, den Weg nicht nur für sich, ihren Vater und ihre Familie. Sie ging ihn für viele. Und wurde immer wieder ungläubig gefragt: Zu Fuß? Allein? Und antwortete immer unaufgeregt: Zu Fuß. Allein.

Das Buch beeindruckt in vielerlei Hinsicht: Die Geschichte selbst. Die Poesie der Sprache. Das zurückgenommene Ego der Autorin. Die Gefühle, die sie preisgibt, ohne gefühlig zu werden. Und nicht zuletzt die klugen Fragen und Schlüsse, die sich für sie daraus ergeben – und natürlich auch für uns, ihre Leserinnen und Leser, die wir nicht selten selbst einer Flüchtlingsfamilie entstammen. Dennoch bleibt zweierlei für die nächste Auflage zu wünschen: Bildunterschriften unter den wenigen Fotos und die Beschriftung der Flüsse auf der Karte im Anhang.

Christiane Hoffmann: Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters. C. H.Beck, 279 S., geb., 22 €.

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