Nichts ist weltmeisterlich

Die Proteste der deutschen Fußballfans gegen das Fifa-Turnier in Katar überraschen in ihrer Heftigkeit

Boykott-Aufruf auf den Rängen des Niederrhein-Stadions: Der Viertligist Rot-Weiß Oberhausen erlebt während der Weltmeisterschaft einen Zuschauerboom.
Boykott-Aufruf auf den Rängen des Niederrhein-Stadions: Der Viertligist Rot-Weiß Oberhausen erlebt während der Weltmeisterschaft einen Zuschauerboom.

An dem Tag, an dem die deutsche Nationalmannschaft ihr letztes Spiel in Katar absolviert, ist es bitterkalt. Zumindest im Braunschweiger Osten, wo 30 Leute um den riesigen Kohlegrill herumstehen, auf dem sie Bratwürste und vegane Alternativen anrichten. Die erste Herrenmannschaft des PSV Braunschweig hat zu einer »Boycott Qatar«-Veranstaltung in die Club-Gaststätte »Holzwurm« geladen. Dass das »P« im Vereinsnamen für »Polizei« steht, finden sie hier selbst ganz lustig. Fast die komplette Mannschaft besteht aus Fans von Eintracht Braunschweig. Viele davon sind »Allesfahrer«, also Anhänger, die kein Heim- und kein Auswärtsspiel ihres Teams verpassen. Hardcore-Fans und Polizei haben bekanntlich nicht mehr absolut identische Vorstellungen davon, wie ein Fußballspiel abzulaufen habe.

In Sachen Katar herrscht hingegen völlige Einigkeit beim PSV Braunschweig. Dass die Fußballer das Turnier boykottieren, unterstützt der Gesamtverein ausdrücklich. Die heutige Diskussionsveranstaltung mit dem Buchautor Hardy Grüne, dem Bremer Fanbeauftragten Jermaine Greene und der Eintracht-Bloggerin Anna Lautenbach ist schon die dritte Boykottaktion der Braunschweiger, die auch zu den beiden vorherigen deutschen Spielen ein Alternativprogramm auf die Beine gestellt hatten: Zeitgleich mit dem Anstoß zur deutschen Niederlage gegen Japan hatten sie hier im Polizeistadion ihr Freundschaftsspiel gegen BSC Acosta 3 angepfiffen und anschließend die ZDF-Doku »Geheimsache Katar« angeschaut. Während des Spanien-Spiels wurde ein alternativer Weihnachtsmarkt mit zehn Ständen auf dem Vereinsgelände organisiert. Und heute? Werden die drei auf dem Podium lange vom Publikum beklatscht, das wiederum viel Lob für die aufwendige Organisation bekommt. Ein gelungener Abend also. Jedenfalls gelungener als der, den die paar meist etwas älteren Herren zeitgleich im Nebenraum des »Holzwurms« verbracht haben. Die hatten nach dem gemeinsamen Abendessen zwei Handys auf den Tisch gestellt. Und waren zusehends leiser geworden, als immer klarer wurde, dass Deutschland trotz des Sieges gegen Costa Rica ausscheiden würde.

Wie in Braunschweig sieht es seit Turnierbeginn an vielen anderen Orten aus: Tristesse in den wenigen Kneipen, die das Turnier überhaupt zeigen. Und jede Menge Action dort, wo alle möglichen Akteure etwas auf die Beine stellten, das aus ihrer Sicht mehr mit Fußball zu tun hat als ein mit Gesamtkosten von 220 Milliarden Euro aus dem Boden gestampftes Turnier in einer Autokratie: »Es gibt kaum eine Stadt, in der nicht alternative Programme vom Tipp-Kick-Turnier bis zur Lesung angeboten werden«, berichtet Bernd Beyer, einer der Initiatoren des bundesweiten Netzwerkes »Boycott Qatar«. Dabei gehe es längst nicht mehr nur um die WM als solche. »Das Ganze hat den Widerstand gegen einen kommerziell überdrehten Profifußball gestärkt.« Insofern wundere es ihn nicht, dass die Aktionen unvermindert weiterlaufen, obwohl die Flick-Truppe längst wieder zu Hause oder im Ski-Urlaub ist.

Zwei Tage nach dem Ausscheiden der deutschen Mannschaft und dem Abend in Braunschweig bestätigt eine bestenfalls durchschnittlich attraktive Begegnung in der viertklassigen Regionalliga West Beyers Worte. Hier im ausgesprochen charmanten, aber nach gängigen Maßstäben wohl ebenfalls nur viertklassigen Stadion Niederrhein empfängt Lokalmatador Rot-Weiß Oberhausen die U-23-Mannschaft von Borussia Mönchengladbach.

Zweitvertretungen wie die der Borussia sind eigentlich denkbar unbeliebt bei den Fans der mit vielen Traditionsvereinen besetzten Spielklasse. Zum einen, weil sie gerne einmal echte Profis einsetzen, was alle mit Ausnahme der Fußballfunktionäre als krassen Fall von Wettbewerbsverzerrung ansehen. Zum anderen, weil sie in der Regel keine Gästefans mitbringen – die sind ja parallel bei den Spielen der ersten Mannschaft. Deren Spielklasse, die Bundesliga, empfindet RWO-Präsident Hajo Sommers als in vielerlei Hinsicht abgehoben. Und damit ist sie ihm fast so egal wie die WM in Katar. Beim Spanien-Spiel sei er mal spaßeshalber zu einer der zwei Kneipen gefahren, die in Oberhausen mit Live-Übertragungen aus Katar werben. »Da saßen zwei Leute drin, ich habe genau gezählt.«

Auch die Fernsehquoten erreichen bei Weitem nicht das Niveau vorheriger Weltmeisterschaften. Das deutsche Spiel gegen Costa Rica sahen 17 Millionen Menschen. Beim Turnier vor vier Jahren verfolgten die deutschen Spiele noch mehr als 25 Millionen Zuschauer. Auch in der ersten K.-o-Runde hat es einen Quoteneinbruch von rund 50 Prozent im Vergleich zur WM 2018 gegeben.

Die Schadenfreude ist dem einstigen Theater-Intendanten Sommers auf der Haupttribüne des Stadions ins Gesicht geschrieben. Der Blick in die gut gefüllte Heimkurve macht ihm heute hingegen genauso Spaß wie der nach rechts, wo der Gästeblock so voll ist, dass sie einen weiteren aufmachen mussten: »Normalerweise«, berichtet Sommers, »schaffen die Gladbacher genau acht Leute ran: drei Muttis und fünf Freundinnen der Spieler.« Das ist heute anders: Gut ein Drittel der offiziell 4562 Fans kommt aus Gladbach. Und Sommers staunt: »So etwas gab es seit Bundesligazeiten nicht mehr.« Die, das muss dazugesagt werden, liegt mittlerweile 50 Jahre zurück – von 1969 bis 1973 war RWO tatsächlich einmal erstklassig.

Aber jetzt muss Sommers los, runter auf den Rasen zum Handshake mit dem Mann vom VfR Oberhausen: »Diese WM ist nicht unser Ding, deshalb unterstützen wir heute lieber RWO«, sagt der Vertreter des Vereins aus der Kreisliga B. Und schließt eine Bitte an: »Kommt mal bei uns vorbei. Wir gewinnen die meisten Heimspiele, wahrscheinlich weil wir den Gestank eher gewohnt sind als unsere Gegner. Der Bauer nebenan fährt gerne Jauche aus.«

Während nun von drei Tribünenseiten freundlicher Applaus für den wackeren Amateurvertreter aufbrandet, singen sich die Gladbach-Fans hinter ihrem »Boycott Qatar«-Transparent schon mal warm. Warum sie während des Turniers die Spiele ihrer zweiten Mannschaft besuchen, haben die »Sottocultura Ultras« ausführlich begründet. Zwar habe man nach wie vor Vorbehalte gegen die Existenz von Zweitmannschaften, »da klassischen Traditionsvereinen und deren Fanszenen so wertvolle Plätze weggenommen werden«, doch erforderten besondere Ereignisse besondere Maßnahmen: »In der viel zu langen Winterpause wollen wir der Fanszene Mönchengladbach möglichst ein Alternativprogramm aufzeigen, um die WM in Katar gleichzeitig boykottieren zu können, aber nicht komplett auf Fußball verzichten zu müssen.«

Ähnlich wie die Gladbacher halten es derzeit viele Ultraszenen in der Republik: Das Turnier ignorieren sie nach Kräften und supporten stattdessen die Frauen- und Jugendmannschaften ihrer Klubs. So erklären sich die ungewöhnlich hohen Zuschauerzahlen der letzten Wochen bei Spielen wie Kaiserslautern II gegen Pirmasens (1000) oder Meuselwitz gegen Hertha II (585) oder Lübeck gegen HSV II. 7505 Fans, darunter 2000 aus Hamburg, sorgten für einen neuen Rekord in der Regionalliga Nord.

Viele Tausend Katar-abstinente Fans haben auch maßgeblich für die jüngsten Zuschauerrekorde bei Frauen-Spielen gesorgt: 17 300 waren beim DFB-Pokalspiel der Nürnberger Frauen gegen Wolfsburg, gar 20 417 beim Spiel der Werder-Frauen gegen den SC Freiburg. Und immerhin 3521 Zuschauer sahen das Spiel der Freiburger Frauen gegen Duisburg, das die SC-Fanszene mit dem Slogan »Fußball ohne Klimaanlage« beworben hatte.

Von der Reisefreude der aktiven Fanszenen profitierten an den vergangenen Wochenenden auch andere Sportarten. Beim HSV verkauften die Supporters, der Dachverband der organisierten Fanszene, Sonder-Dauerkarten zum ans Gründungsdatum angelehnten Preis von 18,87 Euro. Der Erlös kommt einzelnen Vereinsabteilungen des HSV zugute, die natürlich auch in Hamburg im Schatten der Fußball-Profis stehen. Die Spielerinnen und Spieler beim Rollstuhl-Basketball, dem Futsal, bei der Frauen-Mannschaft und beim Eishockey freuen sich so über ungewohnt lautstarken Support.

Das wohl skurrilste Reiseziel unter Hunderten Spielstätten, die sich dank Katar über einen ungewohnt großen Zuschauerandrang freuen durften, dürfte allerdings der 971-Seelen-Ort Halbemond im Landkreis Aurich (Ostfriesland) sein. Dort fand am 20. November die Kreisklasse-2-Partie zwischen der SG Sengwarden/Fedderwarden und dem SV Astederfeld statt. Solche Spiele sehen in der Regel 30 Menschen, die in familiärer oder amouröser Verbindung zum kickenden Personal stehen. Doch an diesem Tag kamen 847 Zuschauer, fast alle sogenannte Groundhopper, vor allem aus den norddeutschen Bundesländern – also Fußballfans, die von einem Stadion zum nächsten pilgern. Knapp 600 von ihnen registrierten sich in der Groundhopper-App Footballogy, mit der Hopper ihre Stadionbesuche dokumentieren.

Zurück nach Oberhausen, wo jetzt wie immer kurz vor Anpfiff die Stadionhymne angespielt wird: »Wir sind die Macht vom Niederrhein, vom Ruhrpott sowieso«, heißt es selbstironisch zu Punkrock-Klängen; der Refrain wird heute von ein paar Hundert Kehlen mehr als üblich mitgesungen: »Ohohoho, RWO!« Das riesige »Boycott Qatar«-Transparent links neben der Heimkurve hängt zu diesem Zeitpunkt schon seit über einer Stunde. Es wurde von Oberhausener und Ulmer Fans gemeinsam gestaltet – beide Fangruppen verbindet seit Jahrzehnten eine Fanfreundschaft.

In einem gemeinsamen Flyer fällt die Kritik am Turnier deutlich aus. »Mit der Vergabe der WM nach Katar hat sich die Fifa endgültig eingestanden, Totengräber des Fußballs zu sein. ›Respekt‹ wird höchstens noch auf Werbebanner gedruckt, während homosexuellen Paaren in Qatar Ausgrenzung und Folter droht. Und wenn der Bauarbeiter aus Pakistan seinen Hungerlohn einfordert, scheint ›no to racism‹ vergessen«, heißt es in dem Flyer, den einige Fans erst in der zweiten Halbzeit an den Aufgängen zur Emscherkurve wahrnehmen. In der 71. Minute fliegen einige von ihnen in die Luft, während ein kühler Bierregen aus Dutzenden, in Ekstase emporgereckten Bierbechern über der Kurve niedergeht. Gerade hat Anton Heinz mit einem Freistoß das Oberhausener Siegtor erzielt.

Gut zwei Dutzend Hopper haben das Tor derweil schon nicht mehr mitbekommen. Da es zwischen Oberhausen und Duisburg heute nur einen Schienenersatzverkehr mit Bussen gibt, müssen sie schon um 15.45 Uhr den Bus am Schloss Oberhausen erwischen, um pünktlich in Krefeld zu sein. Dort wird um 18 Uhr im Grotenburg-Stadion das Oberligaspiel zwischen dem KFC Uerdingen und Germania Ratingen angepfiffen, bei dem 2000 Fans für eine Rekordkulisse sorgen. Und natürlich hängt auch hier hinterm Tor vor dem Heimbereich ein Transparent mit der Aufschrift »Boycott Qatar«.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal