Blindflug in die Medikamentenknappheit

Aktuelle Engpässe betreffen Billig-Generika, aber auch Hightech-Produkte für die Notfallmedizin

»152 Medikamente stehen bei uns derzeit unter Beobachtung«, sagt eine Apothekerin aus dem Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg, die nicht namentlich genannt werden will. Es koste viel Zeit, ständig die Verfügbarkeit von Produkten zu überprüfen, bei denen es aktuell Lieferengpässe gebe. Wenn es dann ab und zu etwas gebe, »bestellen wir, was wir kriegen können«. Besonders problematisch sei es bei einigen Antibiotika, auch Cholesterinsenker seien zum Teil schwer zu kriegen. Fiebersäfte für Kinder, über die aktuell viel gesprochen wird, habe man hingegen vorrätig, man könne nur nichts nachbestellen. Und es fehle an Zäpfchen.

Medikamentenknappheit ist in Deutschland seit Jahren ein Problem. Erst zu Beginn der Corona-Pandemie wurde das Thema wegen reduzierter Exporte des wichtigen Vorproduktelieferanten China zum Politikum. Eine Maßnahme des damaligen Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU) war die Verpflichtung, dass Hersteller und Großhändler Engpässe an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BFARM) melden müssen. Jetzt, wo Fachgesellschaften der Kinderärzte und der Krankenhäuser Alarm schlagen, beginnt die Debatte über Konsequenzen von vorn.

In Deutschland sind über 100 000 Medikamente zugelassen. Das BFARM listet aktuell in seiner Datenbank Lieferengpässe bei 321 Arzneien auf. Der neueste betrifft ein verschreibungspflichtiges Hautpflaster mit dem Wirkstoff Fentanyl, einem extrem starken Schmerzmittel aus der Gruppe der Opioide. Das Bundesinstitut geht derzeit davon aus, dass die Knappheit zwei Monate anhalten werde.

Ob das auch so eintrifft, bleibt abzuwarten. Bei paracetamol- und ibuprofenhaltigen Fiebersäften und -zäpfchen für Kinder hatte niemand damit gerechnet, dass die Knappheiten mehrere Monate andauern könnten. Das Bundesinstitut teilte zunächst mit, Grund für die Probleme bei diesen frei verkäuflichen Massenprodukten sei der »Rückzug eines Marktteilnehmers«. Was wohl bedeuten sollte, dass ein wichtiger Wirkstoffhersteller nicht mehr ausreichend lieferte. Dazu muss man wissen, dass Hersteller von Generika, die fast 80 Prozent des hiesigen Medikamentenmarktes ausmachen, hierzulande nur noch Wirk- und Grundstoffe zusammenmischen, die aus Indien oder China kommen. Oft bleiben dort nur ein oder zwei Hersteller übrig, die entsprechend den hierzulande geforderten Niedrigstpreisen noch liefern können. Fällt einer wegen Produktionsproblemen aus, hat das massive Folgen. Die Berliner Apothekerin sieht denn auch neben der Globalisierung das System der Rabattverträge der Krankenkassen als Ursache der Misere. Bei den einzelnen Medikamenten gibt es immer weniger Firmen, die dem Kostendruck standhalten könnten oder in der Lage sind, einen größeren Bedarf in kurzer Zeit zu produzieren. Auch liefere der Großhandel lieber ins Ausland, da dort höhere Preise zu erzielen seien.

Mittlerweile sehen die BFARM-Experten des Bundesinstituts kein Problem mehr auf der Angebotsseite, da die verfügbaren Bestände und Produktionsplanungen dem »vorpandemischen Bedarf« entsprächen, sondern bei Verteilung und Nachfrage. Es ist eine Art Toilettenpapiereffekt: Apotheken hätten große Bestellungen getätigt, was zu regionaler Unterversorgung und geringer Verfügbarkeit im Großhandel geführt habe. Der Mehrbedarf durch die aktuell erhöhte Ateminfektionsrate habe das Problem zugespitzt. Besorgte Eltern würden zudem auf Vorrat kaufen. Apotheken sollen daher, empfehlen die Behörden und die Kassenärztevereinigung, die Säfte nur noch in den wirklich benötigten Mengen und möglichst nur auf Rezept verkaufen.

Das Hin und Her bei der Ursachensuche zeigt, dass das BFARM weit davon entfernt ist, wie von der Politik einst angekündigt, rechtzeitig Gegenmaßnahmen einleiten zu können. »Wir befinden uns immer noch im Blindflug an dieser Stelle«, kritisiert der Hallenser Epidemiologe und Mediziner Alexander Kekulé. Er fordert, ein echtes Frühwarnsystem mit strengeren Kontrollen und einem besseren Monitoring zu schaffen, um drohenden Engpässen rechtzeitig vorbeugen zu können.

Und die gibt es nicht nur bei Generika. Ein anderes Beispiel ist das Medikament Actilyse. Das gentechnisch in Deutschland erzeugte Hightech-Produkt kommt in der Notfallmedizin bei Schlaganfällen zur Auflösung von Blutgerinnseln zum Einsatz. Der einzige Hersteller für den europäischen Markt, das Unternehmen Boehringer Ingelheim, kann den derzeitigen Bedarf nicht komplett decken. Engpässe werden nach aktuellem Stand sogar bis Ende 2023 erwartet.

Bei einem Medikament wie Actilyse lässt sich die Produktion nicht auf die Schnelle erweitern oder schon gar nicht durch einen staatlichen Hersteller bewerkstelligen, was als Forderung in der aktuellen Debatte auftaucht. Die Herstellung größerer Mengen wäre nur mit langem Vorlauf möglich. Bei extrem billigen Generika wäre das technisch möglich, aber die Rückholung der Wirk- und Grundstoffherstellung nach Deutschland, eine weitere Forderung, würde die Preise stark in die Höhe treiben – Fiebersäfte für drei Euro wären dann Geschichte. Oder es bräuchte massive staatliche Subventionen oder ein Ende der allerseits gewünschten Kostendeckelung im Gesundheitswesen. Staatliche Beschaffungen im Ausland, was ebenfalls in der Debatte gefordert wird, hätte ebenfalls einen Pferdefuß: Wie bei den Covid-Impfstoffen wären dann arme Entwicklungsländer die Verlierer. Die Behörden beschritten übrigens bei manchen Knappheiten einen anderen Weg: Bei Medikamenten wie Tamoxifen, das in der Therapie von Brustkrebs zum Einsatz kommt, wurde per Notfallzulassung der Import aus dem Ausland erlaubt, ohne dass sie zuvor entsprechend kontrolliert wurden. Experten wie Kekulé finden diese Entwicklung »besorgniserregend«.

Klar ist, dass es keine Patentrezepte zur schnellen Lösung des Problems gibt, sondern es um strukturelle Dinge geht. Vom BFARM und anderen Experten gibt es die Empfehlung, dass Apotheken wieder stärker Pharmazie betreiben sollen. Tatsächlich mischen derzeit einige Apotheken die Kinder-Fiebersäfte selbst. Hierbei geht es aber um kleine Mengen. Das liegt an den knappen Wirkstoffen, aber auch an Fachkräftemangel und behördlichen Vorgaben.

Für Eltern wichtig zu wissen ist, dass es Alternativen zu Fiebersäften gibt, wie die Berliner Apothekerin bestätigt. Ab einem bestimmten Alter könnten nach Rücksprache mit Arzt oder Apotheker Ibuprofen oder Paracetamol auch bei Kindern in Tablettenform verabreicht werden, wo es derzeit keine Engpässe gebe. »Und nicht zu vergessen die alten Hausmittel wie verdünnter Kirschsaft und lauwarme Wadenwickel, die alle 10 bis 15 Minuten gewechselt werden.«

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