Taiwan in Alarmbereitschaft

Auf der Insel vor der Küste Chinas wächst die Angst vor einer möglichen Invasion durch den großen Nachbarn

  • Felix Lill
  • Lesedauer: 8 Min.
Das taiwanesische Militär bereitet sich auf Eskalation im Konflikt mit China vor.
Das taiwanesische Militär bereitet sich auf Eskalation im Konflikt mit China vor.

Wenn Wen Liu von ihrer neuen Freizeitbeschäftigung erzählt, wird ihre Stimme lauter, ihr Sprechtempo höher. »Ich habe gelernt, wie man am klügsten klettert und wie die Logistik kritischer Güter funktioniert.« Wen Liu, im Hauptberuf Professorin für Ethnologie an der Academia Sinica in Taipeh, lernt gerade eine andere Welt kennen. »Ich habe auch an einem Militärkurs teilgenommen.« Und sie habe viele Personen in ihrem Bekanntenkreis, die schon mit einer Druckluftwaffe trainiert haben.

Am Telefon erzählt Wen Liu, die sich lieber nicht persönlich treffen will, wie sensibilisiert ihr Heimatland seit einigen Monaten ist. »Bis vor Kurzem wollte niemand über Krieg sprechen.« Jetzt aber sei das Thema an der Tagesordnung. Mehrere Nichtregierungsorganisationen haben begonnen, Kurse zur Selbstverteidigung anzubieten. »Das Teilnehmerfeld ist erstaunlich divers«, sagt Wen Liu. »Da sind längst nicht nur Militärgeeks. Auch junge Mütter. Und viele Personen, die gar nicht wirklich politisch denken.« Menschen eben, die sich schützen wollten.

In Taiwan, einer 24 Millionen Einwohner zählenden Insel südlich des chinesischen Festlandes, gilt die Gefahr eines Krieges dieser Tage als absolut real. Mehrmals hat der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping die »Vereinigung« mit Taiwan angekündigt – notfalls unter Zwang. Was für viele bisher wie Propaganda klang, fühlt sich seit einigen Monaten wesentlich bedrohlicher an. »Die Invasion Russlands in der Ukraine hat vielen Menschen die Augen geöffnet«, sagt Wen Liu.

Der Ernstfall wird wahrscheinlicher

Mehr und mehr Menschen bereiten sich auf den Ernstfall vor. Man sieht es nicht nur an neuen Verteidigungskursen, die sich offenbar großer Nachfrage erfreuen. Auch die politische Debatte ist vom Kriegsszenario geprägt. Parlamentarier fordern längere Haftstrafen für Personen, die mit Akteuren aus China auf eine Weise kooperieren, die die Sicherheit Taiwans gefährde. Zudem könnte der Wehrdienst auf ein Jahr erhöht werden. Und häufig ist zu hören, wie Personen mit anderer Meinung entweder Verharmlosung oder Kriegstreiberei vorgeworfen wird.

Auf den ersten Blick wirken die Chancen für Taiwan minimal: China, das das demokratisch regierte Taiwan als Teil seines eigenen Territoriums betrachtet, ist flächen- und bevölkerungsmäßig schier unendlich größer. Entsprechend hat Peking ein viel stärkeres Militär, was auch die jüngsten Aufrüstungsversuche der taiwanischen Regierung kaum wettmachen. Andererseits: Aus den USA und Japan wurde zu verstehen gegeben, dass man im Fall einer Invasion durch Peking auf der Seite Taiwans stünde. Und der Ukraine-Krieg hat gezeigt, was militärische Unterstützung ausmachen kann.

Der Taiwan-Konflikt hat seinen Ursprung im Chinesischen Bürgerkrieg, der 1949 mit dem Sieg der Kommunisten endete. Deren Gegner, die Unterstützer der Nationalistischen Partei (KMT) und ihres Anführers Chiang Kai-shek, waren unterdessen auf die Insel Taiwan geflohen, planten von hier aus die Rückeroberung des Festlandes. Je mehr Zeit verging, desto heimischer wurden die Nationalisten in Taiwan. Doch als in China das große Wirtschaftswunder begonnen hatte, wurden allmählich auch die Ansprüche auf Kontrolle über Taiwan lauter.

Taiwan, wo nach dem Tod von Chiang ab den 1980er Jahren der Übergang von einer Militärdiktatur in eine Demokratie gelang, ist heute zutiefst gespalten. Zurück in die Diktatur will offiziell niemand, auch eine Rückeroberung Chinas wird nicht mehr gefordert. Aber die harte Linie, die Präsidentin Tsai Ing-wen und ihre Demokratische Fortschrittspartei (DPP) gegenüber Peking fahren, gefällt nicht jedem.

»Die DPP versteht nicht, wie man eine gute Verbindung zu Peking unterhält«, sagt Chieh-cheng Huang. In einem Besprechungszimmer der National Policy Foundation, einem Thinktank der heute oppositionellen KMT, lässt er kein gutes Haar an Tsai. »Ihre Partei wirbt damit, China zu provozieren. Das ist sehr unklug!« Tsai habe einen klugen Wahlkampf gemacht, betreibe aber dumme Politik. Zugleich müsse sie sich zu den Nichtregierungsorganisationen positionieren, die nun die Bevölkerung trainieren und damit eigentlich Staatsaufgaben übernähmen. »Aber von der Präsidentin ist nichts zu hören!«

Auch die neuen Selbstverteidigungskurse, die von wohlhabenden Patrioten finanziert, aber ohne intensiven Kontakt zum Verteidigungsministerium unterhalten werden, hält Chieh-cheng Huang, ein Mann mit grauem Haar und Hosenträgern, für naiv. Von einer Assistentin lässt er sich eine Camouflagejacke ins Zimmer bringen. »Das hier ist meine Jacke. Aber bin ich ein Krieger, weil sie Tarnmuster hat?«

Gerade jetzt müsse man mit allen Mitteln eine deeskalierende Politik betreiben, so Huang: »Wir haben seit 64 Jahren keinen bewaffneten Konflikt gehabt, China seit 1979 nicht mehr.« Zwischen Taiwan und China brach im Jahr 1958 eine Art Kurzkrieg aus, als Pekings Volksbefreiungsarmee die taiwanische Inselgruppe Kinmen angegriffen hatte. Über anderthalb Monate gab es Beschuss auf Kinmen und Gefechte in der Meerenge, die die beiden Parteien voneinander trennen. Auf beiden Seiten wurden damals je 500 Soldaten verwundet oder getötet.

Im Jahr 1979 führte China noch einmal Krieg gegen das ebenfalls von einer Kommunistischen Partei regierte Nachbarland Vietnam. Der einen Monat andauernde Konflikt war ausgelöst worden, da Vietnam gegen die mit China verbündeten Roten Khmer in Kambodscha militärisch vorgegangen war. Auf beiden Seiten waren die Verlustzahlen hoch, und auf beiden Seiten erklärte man am Ende den Sieg. Seither hat sich Peking mit militärischen Aktivitäten, die über Drohungen, Patrouillen und Manöver hinausgingen, zurückgehalten.

Chieh-cheng Huang glaubt, dass der Grund hierfür auch in der bescheidenen Bilanz des chinesischen Militärs zu finden ist. Und Streitkräften, die nie im Einsatz sind, fehle auch noch die Praxis. »Wenn ein Krieg ausbräche, wäre das für beide Seiten schlecht«, so Huang. Dabei sage er dies nicht als fundamentaler Pazifist, eher als Stratege, denn: »Beide würden wie Amateure kämpfen! Was soll das?« Dies mache einen verstärkten Austausch mit Peking umso wichtiger.

Präsidentin Tsai Ing-wen ist keine Politikerin, die diesen Austausch sucht. Eher sucht sie Kontakt zu liberal eingestellten Staaten, deren politische Systeme so funktionieren wie jenes von Taiwan. Der viel diskutierte Besuch der damaligen US-Repräsentantenhaussprecherin Nancy Pelosi, der dritthöchsten Person im US-amerikanischen Staat, sorgte im August für große Aufregung in Peking und verleitete den Ein-Parteienstaat zu Militärmanövern vor Taiwans Küste.

Auch Chieh-cheng Huang vom Thinktank National Policy Foundation hat zwar eine Militärjacke im Schrank, er fordert aber eine Deeskalationspolitik.
Auch Chieh-cheng Huang vom Thinktank National Policy Foundation hat zwar eine Militärjacke im Schrank, er fordert aber eine Deeskalationspolitik.

Tsai reagierte demonstrativ unbeeindruckt und lud weitere hohe Politiker ein. Im Oktober besuchte erneut eine japanische Parlamentarierdelegation Taiwan. Im kommenden Jahr soll die deutsche Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger Taiwan besuchen, als erste Bundesministerin seit 26 Jahren. Die Liste solcher Austausche ließe sich fortführen, sie ist gerade in jüngster Vergangenheit länger geworden. Aus Perspektive Pekings, das die Hoheit über Taiwan in der eigenen Hand sieht, ist dies eine Provokation.

Schließlich geschieht der bilaterale Kontakt zu Taiwan ohne Abstimmung mit Peking – wo man so seine Souveränität verletzt sieht. Es wackelt die seit Jahrzehnten international gängige Haltung, nach der die allermeisten Staaten der Welt formal nur China als legitim anerkennen, Taiwan dagegen nicht offiziell unter diesem Namen als Staat betrachten, um die Beziehungen zu China nicht zu gefährden. Einerseits, weil Peking immer unverblümter seinen Anspruch auf Taiwan geltend machen will. Andererseits, weil Taiwan und andere Staaten zusehends dagegen arbeiten.

Siegessicher, aber auch zerstritten

So zeigte eine Umfrage des taiwanischen Magazins »Global Views Monthly« im September, dass fast zwei Drittel der taiwanischen Bevölkerung einen Krieg befürchten. Zudem sorgen sich mehr als 55 Prozent der Unternehmen, durch die Spannungen auf dem wichtigen Markt in Festlandchina diskriminiert zu werden. Und Mitte des Jahres ergab eine Umfrage des Instituts für Nationale Verteidigung und Sicherheitsstudien, dass fast drei Viertel der Menschen für Taiwan in den Krieg ziehen würden. Gut die Hälfte wäre im Kriegsfall optimistisch.

Dazu gehört Wen Liu. »Ich glaube, Taiwan hat eine gute Chance, sich selbst zu verteidigen«, sagt sie mit Entschlossenheit in der Stimme. »Grundsätzlich ist es schonmal schwierig, eine Insel zu erobern.« Anders als bei Russlands Invasion in der Ukraine ließe sich Taiwan nicht mit Panzern einnehmen. Die Rolle von Streitkräften in der Luft und auf dem Wasser wäre größer. Und Liu, die sich seit einiger Zeit vermehrt mit Verteidigungsexperten austauscht, glaubt, dass Taiwan auch Dank möglicher Hilfe anderer Staaten gut aufgestellt wäre.

Mehr Sorgen als das Militärische macht ihr die politische Situation. »Wir sind so zerstritten. Wie stark wir im Kriegsfall wären, hängt auch davon ab, wer dann gerade regiert.« Wen Liu, die der derzeit regierenden DPP nahesteht, wäre weniger optimistisch, falls die KMT an der Macht wäre. »Der politische Wille, wirklich zu kämpfen, wäre dann geringer, fürchte ich.« Seitens der oppositionellen KMT beteuert man eher, ein Krieg würde dann gar nicht erst beginnen.

In einer Sache scheinen sich beide Lager einig zu sein: Sofern Peking wirklich eine Invasion startet, käme es auf den Zusammenhalt aller Menschen in Taiwan an. Und dann wäre jede Vorbereitung der Bevölkerung besser als gar keine.

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