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Mehr oder weniger Frontex

Grundrechtsbeauftragter verteidigt die Präsenz der Grenzagentur in EU-Problemstaaten

Eine türkische Drohne dokumentiert am 30. Dezember einen mutmaßlichen Pushback vor der Insel Lesbos.
Eine türkische Drohne dokumentiert am 30. Dezember einen mutmaßlichen Pushback vor der Insel Lesbos.

Frontex solle aus Griechenland abziehen, forderte im vergangenen Sommer ein Zusammenschluss von sieben auf der Insel Samos tätigen Nichtregierungsorganisationen. Die in Warschau ansässige EU-Grenzagentur komme ihrer Verpflichtung, Menschenrechtsverletzungen in Griechenland zu überwachen, nicht nach. Dafür haben die Organisationen mehrfach Beweise vorgelegt. Auch internationale Medien wiesen nach, dass die Küstenwache Menschen auf See aussetzte, nachdem diese bereits auf Samos oder anderen griechischen Inseln angekommen waren. Hundertfach hat außerdem die Türkei entsprechende Videobeweise online gestellt.

Der mögliche Rückzug aus einem Gaststaat ist in Artikel 46 der Frontex-Verordnung geregelt. Einsätze können beendet werden, »wenn die Voraussetzungen für ihre Durchführung nicht mehr gegeben sind«. Die Entscheidung darüber obliegt dem Direktor der Agentur.

Zu den möglichen Gründen bleibt die Verordnung vage. Als Maßstab gelten die Zahl registrierter Beschwerden, interne Berichte über »schwerwiegende Vorfälle« oder Meldungen von »einschlägigen internationalen Organisationen«.

Der Grundrechtsbeauftragte bei Frontex hält von einem derartigen Rückzug nichts. Gegenüber »nd« überrascht der aus Schweden stammende Jonas Grimheden mit dem Vorschlag, den Artikel 46 »umzukehren«. Lägen Verstöße im Einsatzgebiet vor, sollte Frontex demnach mehr und nicht weniger Truppen dorthin entsenden.

»In einem solchen Szenario würde die EU mehr Verantwortung für die Praktiken und den Ruf der Außengrenzen übernehmen, die nicht nur nationale Grenzen, sondern auch EU-Grenzen sind«, so Grimheden, der das Amt vor 18 Monaten übernommen hat. Würden Einsätze stattdessen beendet, fehle es an einer »Hebelwirkung«.

Die migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag, Clara Bünger, hegt daran Zweifel. »Die Zahl der gewaltvollen Pushbacks ist in den letzten Jahren in die Höhe geschnellt und das mit der Anwesenheit von Frontex«, kritisiert die Abgeordnete. »Es ist der Druck der EU, die Zahlen der schutzsuchenden Menschen auf null zu reduzieren. Dies führt dazu, dass nationale Polizeibehörden so gewaltvoll an der Grenze agieren.«

Der frühere Frontex-Direktor Fabrice Leggeri saß die Berichte über Menschenrechtsverletzungen in Griechenland jahrelang aus. In einigen Fällen waren Einheiten der Agentur im Rahmen der Operation »Poseidon« selbst anwesend, haben die Vorfälle beobachtet und Berichte darüber entweder geschönt oder gar nicht erst angefertigt. Nachdem dies in einer Untersuchung der Anti-Betrugsagentur der EU öffentlich wurde, musste Leggeri schließlich zurücktreten.

Auch der neue Frontex-Chef Hans Leijtens hält an der Präsenz in Griechenland fest. Bei seiner Vorstellung im Europaparlament Ende November hatte der niederländische Gendarm noch erklärt, den Artikel 46 auszulösen, wenn dies »nötig« sei. Welche Umstände dafür gegeben sein müssten, führte er aber nicht aus.

Ein Problem ist auch, dass Frontex die Dauer der Artikel-46-Prüfung nach Gutdünken verlängern kann. »Dass es im Falle Ungarns fünf Jahre und eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes gebraucht hat, den teilweisen Rückzug zu beschließen, ist nicht normal«, sagt die Juristin Hanaa Hakiki vom European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin. Die sehr schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen in Ungarn seien zu Beginn des Einsatzes bekannt gewesen.

Vor einigen Tagen veröffentlichte das Verteidigungsministerium in Ankara das Video einer Drohne, das wohl einen Pushback durch griechische Einheiten am 30. Dezember vor der Insel Lesbos zeigt. Ähnliche Bilder wurden von einem Pushback am Vortag öffentlich. Aber auch dies führt zu keiner Änderung des Frontex-Einsatzes in der Ägäis. »Leider sind wir nicht in der Lage, ein Video zu kommentieren, das keine Informationen wie die genaue Zeit und den Ort enthält«, erklärt eine Frontex-Sprecherin auf Anfrage.

Die Agentur habe ihre eigenen Berichte durchgesehen und vier Vorfälle identifiziert, die von den griechischen Behörden am 30. Dezember in diesem Gebiet gemeldet wurden. Die Küstenwache habe Frontex ihre Einsatzberichte zum 30. Dezember aber nicht zur Verfügung gestellt, diese könnten also nicht überprüft werden.

»Es gibt ein überwältigendes Beweismaterial und sogar Erklärungen von Mitgliedern griechischer Regierungen«, sagt dazu die Juristin Hakiki vom ECCHR. Der Frontex-Direktor solle die Entscheidung nach Artikel 46 deshalb nicht von nationalen strafrechtlichen Ermittlungen oder Urteilen abhängig machen. »Sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als auch der Europarat haben die Unwirksamkeit dieser innerstaatlichen Mechanismen in Griechenland bestätigt,«, so Hakiki.

Wie soll die Agentur also entscheiden, ob im Einsatzgebiet gravierende Verletzungen der Grund- und Menschenrechte von Asylsuchenden und Migranten vorliegen und der Artikel 46 ins Spiel kommt? Infrage käme der Grundrechtsbeauftragte Jonas Grimheden, der zwar von der Agentur finanziert wird, aber formal unabhängig ist. Mit der 2019 erneuerten Verordnung wurden seine Befugnisse sogar erweitert. Deshalb will Grimheden den Ansatz, den Artikel 46 umzukehren und bei Menschenrechtsverletzungen sogar mehr Personal zu entsenden, weiter verfolgen.

Frontex komme mit Beamten aus anderen Ländern als jenem, in dem die Verstöße passierten, erläutert der Grundrechtsbeauftragte die Vorteile seiner Idee. Sie seien daher unabhängiger von den dortigen nationalen Interessen. »Alle Beteiligten sind verpflichtet, mir Grundrechtsprobleme direkt zu melden – und ich erhalte viele dieser Meldungen«, erläutert Grimheden gegenüber »nd«.

Zumindest die Erfahrungen in Polen scheinen die Annahme, dass mehr Frontex auch zu mehr Kontrolle führt, zu stützen. Nachdem der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko im Sommer 2021 Asylsuchende aus dem Irak und anderen Ländern ermutigte, über Polen, Litauen und Lettland in die Europäische Union einzureisen, haben die Regierungen im Baltikum und Warschau mit der Aufrüstung ihrer Grenzen und massenhaften, brutalen Pushbacks reagiert.

Frontex hatte auch der polnischen Regierung angeboten, Beamte an die Grenze zu Belarus zu entsenden. Obwohl Polen der offizielle Sitzstaat der EU-Agentur ist, wurde das Angebot glattweg abgelehnt. Ein deutlicher Affront gegenüber Brüssel, von dessen Organen sich Warschau offensichtlich nicht in die Karten schauen lassen möchte.

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