Was Zeit ist, ist noch offen

Der Film »Unruh« erzählt von der Entstehung der anarchistischen Bewegung im Schweizer Jura-Tal des Jahres 1877

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 3 Min.
Immer wieder fährt die Kamera über die Gesichter der Arbeiter*innen, die Uhren fabrizieren.
Immer wieder fährt die Kamera über die Gesichter der Arbeiter*innen, die Uhren fabrizieren.

Der erste Eindruck, der sich aufdrängt, wenn man sich in die Welt von »Unruh«, dem zweiten Film von Regisseur Cyril Schäublin, hineinbegibt, ist der einer schwebenden Leichtigkeit. Die hat hier aber nichts Slackerhaftes, kommt also nicht aus einer betont nachlässigen Inszenierungsweise, sondern aus formaler Strenge und Genauigkeit, paradoxerweise. Der zweite: So baut man Bilder eigentlich nicht. Und so montiert man auch keine Historienfilme. Schäublin zeigt seine Figuren überwiegend in Totalen, oft untypisch im Bild platziert. Der Anarchist Piotr Kropotkin (Alexei Evstratov) beispielsweise schiebt sich bei seinem ersten, betont unspektakulären Auftritt unten am Bildrahmen entlang, ab dem Bauchnabel abgeschnitten. Das Umfeld der Figuren dominiert das Bild als Hintergrund, was sie klein erscheinen lässt.

Aber eben deswegen doch nicht unwichtig oder unbedeutend. Die Verkleinerung der Figuren in einem Film, der von der Entstehung der anarchistischen Bewegung im Schweizer Jura-Tal des Jahres 1877 erzählt, soll hier nicht strukturalistisch die Irrelevanz des in die sozialen Zwänge eingespannten Subjekts verbildlichen oder so etwas in der Art. Die anderen Lieblingseinstellungen Schäublins sind das Close-up und das extreme Close-up. Immer wieder fährt die Kamera über die Gesichter der Arbeiter*innen, die Uhren fabrizieren und sich in einem anarchistischen Verband organisieren. Es ist nichts Dramatisches an dieser Art zu filmen, die Bilder und Dialoge fließen in »Unruh« ruhig dahin. Unmöglich, nach dem Sehen zu sagen, wie lange dieser Filme gedauert hat, anderthalb Stunden oder drei.

An der Zeit als einem Sujet des Films entfaltet sich dann auch der Konflikt, der hier aber in aller Ruhe und geradezu bedächtig in Szene gesetzt wird. Konservatismus und Anarchismus stehen einander gegenüber in einer Welt, in der verschiedene Zeitmessungen nebeneinander stehen, die amtliche Zeit, die Fabrikzeit und noch weitere. Vielleicht ist es das, was an diesem Film, der zuerst vielleicht wirken mag wie ein filmisches kopflastiges Experiment, sehr berührt: »Unruh« zeigt Bilder einer Welt, in der die Entscheidung für eine vor allem anderen marktförmig organisierte Gesellschaft noch nicht unwiderruflich gefallen ist. Was Zeit ist, wie Arbeit organisiert werden soll, das ist hier noch offen.

Und diese Offenheit findet ihre Entsprechung in der dezentralisierten Komposition der Bilder wie auch in der Entscheidung, einen Ensemble-Film zu drehen und kein Historiendrama mit einer Heldin oder einem Helden in der Mitte der Geschichte. Dafür sehen wir viele Figuren, immer an den Rändern, außer wenn die Kamera nah herangeht. Besonders nah wird es, wenn die Details der Uhrenproduktion ins Bild rücken. Da wirkt der Blick geradezu verliebt. Zentrale Metapher, wenn man so will, ist die Unruh, ein Schwingsystem, das den in der Fabrik produzierten Taschenuhren ihre Präzision verleihen soll.

Vielleicht nicht die erste, aber eine der vielen Fragen, die »Unruh« nahelegt: Ist das jetzt schon dialektisches Kino? Jedenfalls scheinen die Bilder in Gegensätzen gedacht und montiert, und bestimmt von dem Versuch, mit den Mitteln des Films etwas über Arbeit und Politik und die Geschichtlichkeit von beidem zu formulieren. Das Ergebnis ist ein politischer Film, der um die Schwierigkeiten weiß, die entstehen, wenn man in vollem Ernst von Arbeit, Politik und Geschichte erzählen will. Und ohne selbstreflexive Dauerironie, den Fluchtweg, den etwa Julian Radlmaier (»Selbstkritik eines bürgerlichen Hundes«, »Blutsauger«), der zweite Reanimateur des politischen Films zurzeit, gewählt hat. »Unruh« ist vielleicht am besten über die Abgrenzung zu beschreiben: ein analytischer Film, der sein Denken nicht primär über Dialoge, sondern in der Montage entfaltet. Und der mit einer bezaubernden Leichtigkeit sowohl die oft bleierne Schwere des politischen engagierten Essayfilms wie auch die Flunkereien und Suggestionen des Erzählkinos umschifft. Und damit wie nebenbei einen wirklich neuen, bislang ungekannten Ton findet.

»Unruh«: Schweiz 2022. Regie und Drehbuch: Cyril Schäublin. Mit: Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder, Hélio Thiémard, 93 Min. Jetzt im Kino.

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