Ungleiche Schanzen

Die Vierschanzentournee der Frauen soll kommen. Wann es so weit ist, sorgt für Streit zwischen DSV und ÖSV

  • Lars Becker
  • Lesedauer: 7 Min.
Während die Männer bei der Vierschanzentournee von Großschanzen sprangen, holte Selina Freitag bei der Silvester-Tour in Ljubno auf der Normalschanze ihren ersten Weltcup-Podestplatz.
Während die Männer bei der Vierschanzentournee von Großschanzen sprangen, holte Selina Freitag bei der Silvester-Tour in Ljubno auf der Normalschanze ihren ersten Weltcup-Podestplatz.

Im fernen Japan sind die fliegenden Frauen an diesem Wochenende von der großen Olympiaschanze in Sapporo gesegelt. »Endlich wieder große Schanze, bisschen fliegen, Spaß haben«, hatte die momentan beste deutsche Skispringerin Selina Freitag schon vor dem Abflug nach Fernost geschwärmt. Der Schanzenrekord auf dem Okurayama-Bakken, wo 1972 die Olympischen Spiele über die Bühne gingen, steht bei gewaltigen 148,5 Metern. Gehalten wird er vom Polen Kamil Stoch, der mit drei Vierschanzentournee-Siegen zur Legende wurde.

Der Skisprung-Grand-Slam ist in den vergangenen Tagen zum 71. Mal auf den vier Großschanzen in Oberstdorf, Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen über die Bühne gegangen, ausschließlich für die Männer mit einer Siegprämie von 100 000 Schweizer Franken und einem goldenen Adler als Trophäe. Die Frauen mussten zum 71. Mal bei der Vierschanzentournee zuschauen. Stattdessen gab es für sie eine Silvester-Tour mit 20 000 Schweizer Franken und einer Goldenen Eule als Pokal. Die Bestweite von 93,5 Metern auf der Normalschanze im slowenischen Ljubno reichte der Österreicherin Eva Pinkelnig, um sich den Gesamtsieg nach vier Springen zu sichern. Selina Freitag holte als Dritte beim Finale den ersten Weltcup-Podestplatz ihrer Karriere.

»Die letzten Tage haben viel Spaß gemacht«, sagte die kleine Schwester des einstigen deutschen Skisprung-Stars Richard Freitag danach, fügte aber gleich hinzu: »Ich wäre lieber auf der Großschanze gesprungen. Bei der Vierschanzentournee der Frauen.« Das Thema »Schanzengleichheit« hat die sehr emotional geführten Diskussionen in der Skisprungszene in den letzten Tagen dominiert und sogar dafür gesorgt, dass es zwischen dem Deutschen Skiverband (DSV) und dem Österreichischen Skiverband (ÖSV) zu öffentlichen Verstimmungen gekommen ist.

Begonnen hat alles mit der überraschenden Ankündigung von Österreichs Skiverbandschefin Roswitha Stadlober, dass die Premiere der Vierschanzentournee für Frauen »nicht vor 2024/25« stattfinden werde. Dabei war die Einbeziehung der Frauen in die wichtigste jährliche Skisprungveranstaltung der Welt für den kommenden Winter 2023/2024 noch im vergangenen Frühjahr offiziell von DSV und ÖSV verkündet worden.

Die Reaktionen der Skispringerinnen waren vor allem aus dem deutschen Lager deutlich. Luisa Görlich etwa schimpfte in ihrem Blog, »dass die Zeit reif ist für eine Vierschanzentournee der Frauen. Vor diesem Hintergrund ist es eine Unverschämtheit, im Zeitalter der Gendergerechtigkeit, die Entscheidung für eine eigene Tour wieder verschoben zu haben!« Die Olympiazweite Katharina Althaus sprach zwar von einer Verbesserung des Programms durch die ausgeweitete Silvester-Tour, übte aber auch deutliche Kritik: »Es ist nicht das, was wir wollten – und das ist die Frauen-Vierschanzentournee von Großschanzen. Es gibt einfach keine Argumente mehr, die dagegen sprechen.«

Das sieht man in der Führungsspitze des Deutschen Skiverbands ähnlich. Horst Hüttel als verantwortlicher Weltcup-Sportdirektor für das Skispringen nutzte die große öffentliche Bühne der Vierschanzentournee für ein Plädoyer in Sachen Gleichberechtigung in der Luft. »Mit Springen von Normalschanzen in kleineren Orten wird man das Produkt Frauen-Skispringen nicht entscheidend weiterentwickeln. Wir dürfen keine Zeit mehr mit der Einführung der Vierschanzentournee für Frauen verlieren.« Hüttel machte klar, dass der DSV an den im vorläufigen Weltcup-Kalender 2023/2024 fixierten Terminen der Frauen in Garmisch-Partenkirchen (30. Dezember 2023) und Oberstdorf (1. Januar 2024) festhält – auch wenn das nur eine »halbe« Vierschanzentournee für die Frauen wäre.

Beim ÖSV war man über diesen Versuch, öffentlich Druck auszuüben, überhaupt nicht amüsiert. Denn die ganze Geschichte mit der Vierschanzentournee für die Frauen ist nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick ausschaut. »Einer gab Kommentare ab, um gut dazustehen. Die hätte man sich sparen können«, attackierte ÖSV-Sportchef Mario Stecher seinen deutschen Kollegen Hüttel direkt.

Der ehemalige Weltklasse-Kombinierer Stecher erklärte in einem TV-Interview zudem, warum Österreich beim Projekt Vierschanzentournee für die Frauen bremst: »Vorwiegend geht es darum, dass man zwei Jahre zurückdenken muss. Da gab es definitiv eine Entscheidung gegen die Vierschanzentournee der Frauen seitens der deutschen Veranstalter. Die österreichischen Veranstalter waren zum damaligen Zeitpunkt dafür.« Deshalb habe man sich nach Alternativen und anderen Partnern umgesehen. Das Ergebnis war die Silvester-Tour in diesem Jahr mit jeweils zwei Springen im österreichischen Villach und im slowenischen Ljubno.

Hüttel gibt zu, dass Stechers Geschichte stimmt. Allerdings hätten damals auf dem Höhepunkt der Corona-Zeit nur die deutschen Veranstalter Zweifel an der Frauen-Vierschanzentournee gehabt und nicht der Deutsche Skiverband. Dazu muss man wissen, dass die Vierschanzentournee seit 1953 von den Skiklubs in den vier Ausrichterorten organisiert wird. Als Veranstalter stehen aber der DSV und ÖSV als die nationalen Skiverbände der beiden Ausrichterländer dahinter. Wenn man also eine Vierschanzentournee der Frauen organisieren will, geht das nur zusammen mit allen Partnern.

»Wir sind überhaupt nicht gegen die Tournee für die Frauen, aber es braucht einfach eine gewisse Zeit. Schließlich wollen wir ein Produkt kreieren, das es im besten Fall mindestens 70 Jahre wie bei den Männern gibt«, sagt Stecher. Es gehe bei den zu klärenden Fragen unter anderem um Finanzen und Termine. Schließlich dürfe man die Vierschanzentournee als berühmtesten Markennamen im Skispringen nicht beschädigen.

Auch mit dieser Einschätzung liegt Österreichs Skisportchef richtig. Der deutsche Plan für die Frauen-Vierschanzentournee ist nämlich längst noch nicht ausgereift. Nach dem derzeitigen Plan sollen die Frauen in den Ausrichterländern in umgekehrter Reihenfolge springen. Wenn also die Männer in Oberstdorf starten, würden die Frauen in Garmisch-Partenkirchen springen. Das berühmte Neujahrsspringen würde demnach für die Frauen in Oberstdorf über die Bühne gehen.

Hüttel begründet diesen Plan mit der »schwierigen Logistik«, weil es im über Jahre ausgebuchten Oberstdorf nicht genügend Unterkünfte für den auf etwa 150 Personen geschätzten Frauentross gebe. »Ich finde, diesen Kompromiss kann man am Anfang machen«, sagt er. Das sehen andere ganz anders. »Die Frauen sollten die gleiche Vierschanzentournee und die gleiche Reihenfolge wie die Männer haben. Solch gemeinsame Wettkämpfe gehen an anderen Weltcup-Orten doch auch«, fordert etwa der letzte deutsche Tournee-Gesamtsieger Sven Hannawald.

Auch eine andere deutsche Skisprunglegende sieht den deutschen Plan einer »umgekehrten« Vierschanzentournee für die Frauen skeptisch. »Was passiert, wenn in Oberstdorf bei den Männern volles Haus ist und dann wird zu den Frauen geschaltet und dann sind dort viel weniger Zuschauer?«, fragt sich Martin Schmitt, wie Hannawald jetzt TV-Experte. »Man sollte die Macht der Bilder nicht unterschätzen.« Schließlich ist das Frauen-Skispringen noch ein relativ junges Pflänzchen, das aufmerksam gepflegt werden muss.

Der Kampf um die Gleichberechtigung in der Luft dauert nämlich schon sehr lang. Im vergangenen Jahrtausend zweifelten führende männliche Funktionäre öffentlich an, ob Frauen das Skispringen physisch überhaupt bewältigen könnten. Bei der Landung könne ja eventuell »die Gebärmutter platzen«. Eva Ganster – bezeichnenderweise eine Österreicherin – bewies überzeugend das Gegenteil. Die Flugpionierin trat als Vorspringerin bei den Olympischen Spielen 1994 in Lillehammer auf und sprang im Februar 1997 am Kulm als erste Frau von einer Flugschanze. Ihre damals 167 Meter schafften es sogar ins Guinness-Buch der Rekorde.

Auch danach blieb es ein harter Kampf für die Frauen, der zeitweise sogar die Gerichte beschäftigte. Eine Gruppe von Topspringerinnen um die Deutsche Ulrike Gräßler wollte die Zulassung zu den Olympischen Spielen 2010 in Vancouver erstreiten. Damals erlitten die Frauen zwar noch eine Niederlage, doch die Gleichberechtigung ließ sich nicht aufhalten. 2009 wurde die erste Weltmeisterin der Geschichte gekrönt, Ende 2011 feierte der Frauen-Weltcup seine Premiere. Den endgültigen Durchbruch gab es am 11. Februar 2014, als sich in Sotschi die Deutsche Carina Vogt zur ersten Olympiasiegerin im Frauen-Skispringen krönte.

Auch danach ist es mit der Gleichberechtigung weiter vorangegangen. Im vergangenen Winter feierte der Mixed-Wettbewerb im Skispringen seine – wegen zahlreicher Disqualifikationen freilich missglückte – Olympia-Premiere. In diesem Winter werden die besten Frauen erstmals beim Weltcup in Vikersund von einer Skiflugschanze segeln. Und 2026 gibt es für die Adlerinnen bei den Olympischen Spielen von Mailand und Cortina erstmals einen Wettbewerb von der Großschanze.

Und was wird mit der Vierschanzentournee für die Frauen? »Wir sind für jegliche Gespräche bereit. Wenn es gewünscht ist, setzen wir uns morgen an einen Tisch. Der Ball liegt aber jetzt beim ÖSV«, sagt Hüttel. Sein österreichischer Kollege Stecher hofft, dass es bis zum Spätsommer eine Lösung gibt. Die fliegenden Frauen werden mit Sicherheit weiter Druck in Sachen »Schanzengleichheit« machen, damit sie so bald wie möglich eine eigene Vierschanzentournee samt Großschanzen haben.

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