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  • "Konfrontative Religionsbekundung"

Machtkampf um Religion

Neuköllns CDU und FDP wollen mit SPD und AfD eine Stelle durchdrücken, die fachlich abgelehnt wird

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 8 Min.

Im Klassenzimmer werden Adventskalendertürchen geöffnet und in der Schulküche Plätzchen gebacken, das Schulgebäude ist geschmückt mit Tannenbaum und Kerzenbasteleien: Noch vor wenigen Wochen herrschte an Neuköllner Schulen Weihnachtsstimmung. Dass an manchen von ihnen der Großteil der Schüler*innen – mitunter 80, 90 Prozent – diese und andere christlich geprägten Bräuche zwar kennt und sie im Schulkontext auch wahr- und daran teilnimmt, aber keine biografische Bezüge zu derlei Ritualen hat, wird nicht als Problem gesehen.

Schon gar nicht von den Fraktionen der Neuköllner CDU und FDP. Sie wollten Anfang Januar und kurz vor dem Termin zur Berliner Wiederholungswahl am 12. Februar im Bildungsausschuss der Bezirksverordnetenversammlung ein Vorhaben zur Abstimmung bringen, das seit über einem Jahr durch die Ausschüsse geistert: Unter dem Titel »Bezirkliche Strategie gegen religiöses Mobbing und konfrontative Religionsbekundungen« geht es aber weniger darum, muslimische Schüler*innen vor dem christlichen Feiertagswesen in Schutz zu nehmen. Vielmehr wird hier eine islamistische Dominanz an Neuköllner Schulen unterstellt. Nicht überraschend gibt es dafür Beifall von der faschistischen AfD, die mit vier Sitzen in der Bezirksverordnetenversammlung keine große Rolle spielt. Relevanter ist die Zustimmung der regierenden SPD-Fraktion.

Das Narrativ, das anschlussfähig ist an die Debatten um »Clan-Kriminalität« oder die aktuelle Diskussion um die »Silvestergewalt«, wurde vor einem Jahr durch die Veröffentlichung einer nicht repräsentativen Umfrage des Vereins für Demokratie und Vielfalt in Schule und beruflicher Bildung (Devi) und ein entsprechendes Medienecho massiv befeuert. Darin wurde eine Zunahme »konfrontativer Religionsbekundungen« in Schulen des Bezirks konstatiert, die die Einrichtung einer eigenen Registerstelle unter diesem Titel rechtfertige.

Zahlreiche Wissenschaftler*innen und Antidiskriminierungsorganisationen, aber auch Fachpolitiker*innen wie der ehemalige Berliner Bildungsstaatssekretär Mark Rackles (SPD) sehen das anders. Das Vorhaben befördere Rassismus und Stigmatisierung und sei abzulehnen, hieß es bereits in einer im Januar 2022 publizierten umfänglichen Stellungnahme. Es befördere diskriminierende Konzepte. Stattdessen müssten die Arbeit der Anti-Mobbing-Beauftragten des Senats und diskriminierungskritische sozialpädagogische Regelstrukturen dort ausgebaut werden, »wo Schulen mit der pädagogischen Bewältigung von Konflikten jedweder Art überfordert sind«.

»An unseren Schulen ist es selbstverständlich, dass fast ausschließlich muslimisch geprägte Klassen Adventskalender basteln und Weihnachtslieder singen«, schrieben zudem über 130 Neuköllner Lehrer*innen, Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen von 15 Neuköllner Schulen sowie der kurdische Elternverein Yekmal in einer weiteren Stellungnahme zur Untersuchung von Devi im März 2022. Bitten hingegen muslimische Schüler*innen um Gebetsräume oder wollen ein Fastenbrechen oder eine Feier zum Zuckerfest organisieren, werde dies oft automatisch als religiöse Provokation wahrgenommen.

»Selbstverständlich gibt es an unseren sozial segregierten Neuköllner Schulen religiösen Konformitätsdruck, Mobbing religiöser Minderheiten, Antisemitismus, Sexismus, Homo- und Transfeindlichkeit«, heißt es weiter. Aber: Für niemanden, der an Neuköllner Schulen arbeitet, sei dies eine Neuigkeit, geschweige denn die Thematisierung ein Tabu. »Wir können aber keineswegs bestätigen, dass diese Probleme in unseren Schulen ein besonders häufiger Anlass für Konflikte sind oder gar eine besondere Überforderung darstellen«, so die Eltern und Pädagog*innen. Dennoch dominiere längst ein negatives Bild den öffentlichen Diskurs über muslimisch wahrgenommene Schüler*innen.

»Inhaltlich gibt es auf Landesebene und aus der Fachwelt einen Konsens, und zwar eine deutliche Ablehnung des stigmatisierenden Diskurses und auch einer solchen stigmatisierenden Beschwerdestelle«, sagt Philipp Dehne, bildungspolitischer Sprecher der Neuköllner Linksfraktion. Dehne hat selbst als Lehrer gearbeitet. Wie seine Kolleg*innen betont der Linke-Politiker: »Es gibt Probleme, aber die löst man über unterstützende Maßnahmen.« Die antragstellenden Fraktionen hätten sich trotz eindeutiger Festlegungen hinsichtlich der Beteiligung zivilgesellschaftlicher Initiativen über die Abmachungen hinweggesetzt und versucht, mittels beschränkter Teilnahmemöglichkeiten eine Beschlusslage herbeizuführen, kritisiert Dehne. Er habe daraufhin beantragt, den Punkt zu vertagen. Nun soll noch vor dem voraussichtlichen Wahltermin am 12. Februar eine Sondersitzung auf Bezirksebene stattfinden, bei der alle Fraktionen jeweils zwei Expert*innen zur Anhörung mitbringen dürfen. Diese müsse in jedem Fall in aller Öffentlichkeit und daher online stattfinden, fordert Neuköllns Grünen-Fraktionschefin Susanne Worschech. CDU, FDP und SPD wollten eine solche Anhörung auf Landesebene erreichen – dem wurde aber nicht entsprochen.

Doch auch hier nimmt man die Vorgänge in Neukölln aufmerksam wahr. »Wir sind seit über einem Jahr in beständigem Austausch zu der Untersuchung und dem Vorhaben«, erklärt Saraya Gomis, Staatssekretärin für Vielfalt und Antidiskriminierung im Haus der Linken-Senatorin Lene Kreck, gegenüber »nd«. Die Devi-Untersuchung sei im Bildungsausschuss und im Rechtsausschuss besprochen worden, es habe Gesprächsrunden mit Beteiligung des Vereins und des Bezirksbürgermeisters Martin Hikel (SPD) selbst gegeben. Gesprächsrunden unter Beteiligung der kritischen Zivilgesellschaft würden auch aktuell fortgesetzt. »Es geht nicht nur um Antidiskriminierung, sondern auch um rechtliche Fragen«, betont Gomis im Hinblick auf Datenschutz oder Verfassungskonformität, Stichwort: grundrechtlich verbriefte Religionsfreiheit.

Die Staatssekretärin hat selbst als Lehrerin gearbeitet. »Die Instrumentalisierung von Religion, Geschlecht, Migrationsgeschichte, sozialem Status und aller erdenklichen anderen Dinge für schulische Konflikte ist seit jeher Realität. Die Antwort darauf ist nicht jeweils der Aufbau immer neuer, gesonderter Melde- und Erforschungsprojekte, deren Ergebnisse letztlich schon von Anfang an bekannt sind und die nebenbei auch noch bestimmte Gruppen stigmatisieren. Die Antwort ist der Auf- und Ausbau der Mobbing-Prävention an Berliner Schulen anhand längst bestehender Fachkonzepte«, spitzt Gomis es zu. 

Es sei, so Gomis weiter, auch zu fragen: »Wie sind die Gelder für die Umsetzung pädagogischer Konzepte, die gegen Mobbing und Diskriminierung arbeiten, verteilt?« Denn: »Es gibt eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung.« Diese müsse sich auch in fest verankerter kontinuierlicher Arbeit und Auseinandersetzung um Mobbing und Diskriminierung niederschlagen, in allen öffentlichen Einrichtungen und natürlich auch in Schulen. Erfahrungsgemäß spielt hier Geld eine große Rolle: Schulleitungen beklagen, dass weder finanzielle Mittel noch Beratungsangebote in ausreichendem Maß zur Verfügung stünden.

Es gehe bei der Debatte um die Registerstelle auch darum, dem Mobbing zu begegnen und gleichzeitig rassistische Effekte nicht billigend in Kauf zu nehmen, so Gomis. Gegenwärtiger Planungsstand ist, dass ihre Verwaltung und die Verwaltung für Integration, Arbeit und Soziales für dieses Haushaltsjahr etwa 250 000 Euro für eine fundierte Studie zur Verfügung stellen. Die Umsetzung sollte möglichst verwaltungsübergreifend erfolgen. Diese soll die Grundlage bilden, um eine langfristige Strategie zu entwickeln, statt immer wieder Einzelmaßnahmen zu fördern. Zumal diese über die Zeit auch negative Effekte haben können.

Vertreter*innen der Zivilgesellschaft wie Ed Greve sind skeptisch, was die Bereitschaft zur offenen Debatte anbetrifft. Greve ist Antidiskriminierungstrainer, engagiert sich seit Langem im Berliner Migrationsrat und ist im Wahlkreis Neukölln 1 Direktkandidat für das Abgeordnetenhaus der Partei Die Urbane. »Seit einem Jahr gibt es Kritik an und Stellungnahmen zu dem Vorhaben, aber von den Verfechter*innen der Registerstelle ist niemand mit den Verfasser*innen oder Unterzeichner*innen ins Gespräch gegangen«, erklärt er. Nun, wenige Wochen vor der Wahlwiederholung versuche man an der Zivilgesellschaft vorbei, den Beschluss politisch durchzudrücken. »Es sind ja nicht irgendwelche Leute, die dagegen intervenieren, sondern unter anderem Antidiskriminierungs-Expert*innen von der Kompetenzstelle Intersektionale Pädagogik«, so Greve zu »nd«.

Ein Schritt in die richtige Richtung wäre es, Beschwerdestellen einzurichten, bei denen Diskriminierungen in der Schule und durch Lehrkräfte gemeldet werden können. Stattdessen würden »multikausale Zusammenhänge von Mobbing heruntergebrochen« und muslimische Schüler*innen als eine Gruppe vereinheitlicht. »Schüler*innen sind aber die Gruppe, die in der Schule strukturell am wenigsten Macht hat.« Auch das sei ein Hintergrund bei Mobbingsituationen, erklärt Greve.

Juliane Karakayali, Professorin für Soziologie an der Evangelischen Fachhochschule Berlin, forscht und publiziert seit vielen Jahren zu Zusammenhängen von Rassismus und Schule. Die als Studie präsentierte Devi-Untersuchung hat sich Karakayali genau angesehen. Allein aus wissenschaftlicher Perspektive, so die Migrationswissenschaftlerin zu »nd«, sei daran zu kritisieren, dass weder Methode noch Theorie zugrunde gelegt seien. Ebenso wenig werde die Auswahl der befragten Personen begründet. Inhaltlich, so Karakayali, sei wiederum interessant, dass von der geringen Zahl an Gesprächspartner*innen niemand eine Meldestelle fordere. Ebenso wenig sei von einer nun politisch kolportierten »Vorform des Islamismus« die Rede. 

»Auch die Befragten sagen: Wir brauchen mehr guten Islamunterricht und mehr gut qualifiziertes Personal«, wundert sich die Wissenschaftlerin über den daraus erfolgten Rückschluss, eine »Anlaufstelle für konfrontative Religionsausübung« einzurichten. »Wo soll diese Stelle denn angesiedelt sein?«, fragt Karakayali. »Schule ist ein pädagogischer Raum. Es kann nicht sein, dass hier ein straf- oder ordnungsrechtlicher Rahmen geschaffen wird, der noch dazu Sonderregelungen für eine bestimmte Gruppe schafft, die nicht einheitlich ist. Was macht das mit dem Vertrauen in die Bildungseinrichtung? Den Eltern?«, gibt die Forscherin zu bedenken.

Die Rolle von antimuslimischem Rassismus bleibt in diesem Zusammenhang unterbelichtet, kritisiert Karakayali. »In einer christlich-säkularen Gesellschaft wird jede Form von Religiösität, die davon abweicht, als auffällig wahrgenommen«, so die Expertin. Wenn allein muslimische Schüler*innen adressiert werden, knüpfe das an gesellschaftlich weitverbreitete Ressentiments an.

Und bei der SPD Neukölln? Offen wollen nur die Jusos des Bezirks die Einrichtung einer Stelle ablehnen. »Dieses Thema wird sehr kontrovers in unserer Partei diskutiert, und mehrere Genoss*innen teilen unsere ablehnende Haltung«, erklärt für die Jugendorganisation Cindy Adjei gegenüber »nd«. Man werde daran festhalten und begrüße eine größere wissenschaftliche Studie zur Thematik, wie der Senat sie plane. »Vermeintliche Fakten zu schaffen, bevor diese Studie begonnen wurde und dabei sogar eventuell auf Stimmen der AfD zu setzen, halten wir für inakzeptabel.« Martin Hikel dürfte das egal sein. Dennoch entfernt sich der Bezirksbürgermeister so immer weiter von der Zivilgesellschaft, mit der er sich so gern ins Bild setzen lässt. 

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