Prozesse der Entfremdung

Die außerparlamentarische Linke ist dominiert von Akademikern. Aber nur eine klassengemischte Organisierung wird die Verhältnisse umstürzen

  • Anne Seeck
  • Lesedauer: 7 Min.
So sieht heute leider kaum eine linke Veranstaltung aus: Demonstration gegen die rot-grüne Arbeitsmarktreform, August 2004 in Leipzig.
So sieht heute leider kaum eine linke Veranstaltung aus: Demonstration gegen die rot-grüne Arbeitsmarktreform, August 2004 in Leipzig.

Ich bin in der DDR aufgewachsen und hatte dort mit proletarischen Milieus zu tun, war selbst Teil davon – auch wenn ich mich durch Bildung und Abweichung von meinen sozialen Wurzeln entfremdete. Zur linken Szene in Berlin stieß ich während der Erwerbslosenproteste im Jahr 1998, denn ich war selbst eine Betroffene; auch bei den Hartz-IV-Protesten in der Zeit von 2002 bis 2005 war ich aktiv. 1998 initiierte ich mit hoffnungsvoller Euphorie, aber auch erkennbarer Wut die Erwerbslosengruppe »Hängematten«, die während der Demos immer mehr Zulauf bekam. Unser Engagement verlief zum Teil chaotisch, aber es war »Bewegung drin«. Die Vielfalt der Gruppe machte ihre Stärke aus, ebenso die unterschiedlichen Besucher*innen. Die Menschen kamen aus Ost und West, waren alt und jung, Verkäuferin und Sozialarbeiter, Arbeiter*in und Akademiker*in mit Doktortitel. Aber eins hatten sie fast alle gemeinsam: Sie waren erwerbslos.

Politisierungsmoment Agenda 2010

In den Jahren nach dem Widerstand gegen die Einführung von Hartz IV herrschte in Berlin noch reger linker politischer Betrieb, wie mehrere kampfkräftige, zum Teil bundesweit organisierte Initiativen und Kampagnen aus der Zeit belegen. Zu nennen sind der »Agenturschluss«, die »Zahltage«, »Keine*r geht allein zum Amt« und die »Kampagne gegen Zwangsumzüge«. Am Jobcenter in Berlin-Neukölln wurden militante Untersuchungen und Jobcenterversammlungen durchgeführt, die »Überflüssigen« sorgten für produktive Unruhe, die »Mayday«-Proteste und die Demonstration »Wir zahlen nicht für eure Krise« sind vielen Betroffenen und Aktiven noch in Erinnerung. Danach konzentrierten sich die Proteste auf das Thema Wohnen.

Seit nunmehr über zehn Jahren hat sich die linke Szene in Berlin dagegen kaum noch mit dem Thema Hartz IV und Einkommensarmut auseinandergesetzt, mit der Konsequenz, dass ihr weitgehend die sozial-politische Kompetenz abhanden gekommen ist. Zwar bot die Initiative »Basta« aus dem Bezirk Wedding Sozialberatung an und der Erwerbslosenverein Teilhabe e.V. organisierte eine Vielzahl von Veranstaltungen, aber da »wo es weh tut«, nämlich auf der Straße, passierte kaum etwas.

Erst im Herbst 2022 regten sich wieder Sozialproteste, diesmal gegen die zum Teil horrenden Preissteigerungen. Es gründeten sich Bündnisse, um Demonstrationen zu organisieren, aber auch denen gelang es in Berlin zumeist nur, die eigenen linken Milieus zu mobilisieren. Das ist ein Hinweis darauf, dass die Linke im Vergleich zu den früheren Hartz-IV-Protesten offensichtlich weitgehend den Zugang zu Armuts- und Arbeiter*innenmilieus verloren hat.

Politik der Stellvertretung

Während sich früher Betroffene selbst organisierten, zum Beispiel in der Arbeiter-, Erwerbslosen-, Lehrlings-, Frauen-, Schwulen- , Krüppel- oder Antipsychiatriebewegung, wird heute vermehrt die Methode des Organizings eingesetzt, die aus der Gemeinwesenarbeit kommt und auch im gewerkschaftlichen Kontext eingesetzt wird. Organizer*innen werden ausgebildet, um dann zum Beispiel Arbeits- und Mietkämpfe zu organisieren. Früher wurde mit Menschen im Alltag einfach nur gesprochen, jetzt heißt das im Organizing-Jargon »Eins-zu-Eins-« oder »Haustür-Gespräche«.

Studierte Aktivist*innen transportieren ihr Wissen aus der Universität und der Arbeitswelt in die linke Szene. Dass eine akademische Sprache immer mehr zur Norm in linken Zusammenhängen wird, stellte die »Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark e.V.« schon vor einigen Jahren in einem Flyer zu dem Thema fest. Wer sich nicht akademisch ausdrücken könne oder wolle, werde nicht ernstgenommen. Wissen, das aus wissenschaftlichen Büchern stamme, werde höher bewertet, als jenes, das aus jahrelanger Arbeit und persönlicher Erfahrung mit einem Thema entstehe, so die Initiative. Expert*innenwissen wird danach mehr geschätzt als Erfahrungswissen, viele linke Akademiker*innen treten als Expert*innen auf und präsentieren sich als Person in Artikeln, Büchern, Veranstaltungen und sozialen Medien. In dieser Linken ist der Auftritt von linken »Promis« offensichtlich sehr wichtig, selbst bei Kongressen, die sich um Themen wie Vergesellschaftung drehen, die breite Bevölkerungskreise betreffen.

Offene Aufrufe werden von Personen mit akademischen Titeln unterschrieben, Verkäufer*innen oder Handwerker*innen sucht man vergebens; es kann passieren, dass zum Thema »Klasse« eine Runde von Professor*innen diskutiert. So überrascht es nicht, dass häufig die wissenschaftlichen Aspekte eines gesellschaftspolitischen Anliegens im Vordergrund stehen. Es zählen sachliche Argumente und während etwa bei den Hartz-IV-Protesten auch viele emotionale Beiträge von Betroffenen zu hören waren, wird Emotionalität mittlerweile eher als unpassend und unerwünscht empfunden. Ich selbst erlebte, wie ein Sozialarbeiter auf einem Podium zum Thema Klassismus von »verwalteten Schichten« sprach – gemeint waren vor allem einkommensarme und behinderte Menschen. Als ich unruhig wurde, weil ich endlich diskutieren wollte und fragte: »Wo sind denn hier die ›verwalteten Schichten‹?«, reagierte die Moderatorin herablassend. Ich deutete das so: Wer emotional wird, stört.

Verwertung linker Politik

In linken Räumen dominiert ein bürgerliches Auftreten. Universitäre Diskurse werden in die linken Zusammenhänge übertragen, Begriffe wie »Call for Papers« oder »Panel« aus dem universitären Umfeld übernommen. Durch Anwendung neuer Moderationstechniken, die Nutzung sozialer Medien und vieles mehr wird die politische Arbeit professioneller und effizienter. Wer diese Techniken nicht beherrscht und deshalb bestimmte Erwartungshaltungen nicht erfüllt, wird mehr oder weniger subtil aus Gesprächsrunden und von Vorbereitungstreffen ausgeschlossen. Während der Hartz-IV-Proteste ging es in den Bündnissen und Gruppen dagegen teilweise unorganisiert und deshalb ungeregelt »lebendig« zu – nicht immer zum Vorteil der Kampagnen, muss man sagen, aber die Proteste wurden eben auch von vielen Betroffenen, einer buntgewürfelten Personengruppe organisiert.

Ein Resultat dieser Bewegung war übrigens die Entstehung der Wahlalternative Arbeit & Gerechtigkeit (WASG), die ebenso wie die Linkspartei und die ihr nahestehende Rosa Luxemburg Stiftung linke Akademiker*innen mit bezahlten Jobs versorgte. Mit politischem Engagement den eigenen Lebensunterhalt verdienen zu können, blieb dagegen den meisten Erwerbslosenaktivist*innen verwehrt. Diese waren zumeist ehrenamtlich tätig, während die politische Aktivität von Akademiker*innen immer öfter mit der individuellen beruflichen Karriere verknüpft ist. Es stellt sich daher die Frage nach der Authentizität und auch der Glaubwürdigkeit des eigenen politischen Anliegens.

In dem 2020 erschienenen Sammelband »Solidarisch gegen Klassismus« spielt das Problem einer akademischen Mittelschichtslinken eine große Rolle. So stellt die Autor*in Sabto Schlautmann zum Verhältnis von Klasse und sozialen Auseinandersetzungen nüchtern fest: »In den letzten Jahrzehnten haben sich die Gruppen auch immer mehr verändert und bürgerliche Werte haben den Standard gesetzt. … Das Klassenthema wurde meist komplett außen vor gelassen.«

Spaltung und Verwertungsdruck

Wo ist die linke Solidarisierung mit jenen Betroffenen und Aktivist*innen, die sich gegen Klassismus engagieren? Auch die Linke selbst ist sozial gespalten, aber das steht – außer in der Klassismus-Debatte – nur selten zur Debatte. Warum ist das so, obwohl es doch in der Linken sowohl Arbeiter*innenkinder gibt als auch Menschen vom »Rand der Gesellschaft«, die wohnungslos oder krank werden, Flaschen sammeln oder die Lebensmittelausgabestellen besuchen? Wo war die Solidarisierung der linken Szene in Berlin, als die Initiative »#Ichbinarmutsbetroffen« im letzten Jahr eine Kundgebung vor dem Bundeskanzleramt durchführte, mit eindrucksvollen Redebeiträgen von Betroffenen? Es kamen gerade mal 200 Menschen. Warum wurde die Diskussion um die Einführung des Bürgergelds während der Teuerungsproteste im Herbst 2022 in Berlin nicht aufgegriffen, obwohl diese Einführung medial breit debattiert wurde?

Man kann die heutige Zeit nicht mit der Situation vor 25 Jahren gleichsetzen. Damals waren die Arbeitslosenzahlen sehr hoch, während heute von einem akuten Fachkräftemangel ausgegangen wird. Und auch ein weiterer entscheidender Unterschied darf nicht verschwiegen werden: Wir Erwerbslosenaktivist*innen nahmen uns die Zeit für politisches Engagement, während vielen heute durch den Stress in der Verwertungsmaschinerie Lohnarbeit die Zeit dafür fehlt. Dabei liessen sich die Armutsentwicklung und die soziale Frage im Allgemeinen sehr gut mit der Kritik an Lohnarbeit und der ökologischen Frage verknüpfen. Ein Großteil der Armuts- und Arbeitermilieus hat sich aber von linker Politik abgewendet – und wie wir jene Menschen wieder erreichen können, sollte Gegenstand einer Selbstreflexion der Linken sein.

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