Hohes Maß an Spannungen

80 Prozent der pflegenden Angehörigen in Deutschland fühlen sich überfordert

  • Martin Höfig
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein Sohn wäscht seine pflegebedürftige Mutter.
Ein Sohn wäscht seine pflegebedürftige Mutter.

»Das Gesundheitssystem würde zusammenbrechen, wenn nur die Hälfte der häuslichen Pflege wegfallen würde«, sagt Gabriele Tammen-Parr. Die 69-Jährige war lange Zeit Leiterin der von ihr gegründeten Beratungsstelle »Pflege in Not« und ist heute Referentin und ehrenamtliche Vorständin des Vereins »wir pflegen«. Dieser wurde vor fünf Jahren gegründet und versteht sich als Stimme für die Interessen und Selbsthilfe pflegender Angehöriger.

Während der Schwerpunkt des diesjährigen, vom Springer Medizin Verlag veranstalteten Branchenkongresses auf dem Fachkräftemangel in der beruflichen Pflege lag, versuchte Tammen-Parr die Anwesenden für die Situation der pflegenden Angehörigen zu sensibilisieren. »Von den etwa fünf Millionen Menschen – von denen rund die Hälfte erwerbstätig ist –, die in Deutschland Angehörige pflegen, geben 80 Prozent an, damit eigentlich überfordert zu sein«, sagt Tammen-Parr. Paradoxerweise sei trotz der großen Belastung die Bereitschaft, zu Hause zu pflegen, ungebrochen hoch.

Dass jene Bereitschaft jedoch nicht immer beziehungsweise relativ oft nicht ganz freiwillig ist, sondern eher mit einem Geflecht aus emotionalen Abhängigkeiten zu tun hat, deutet ein kurzer Film an, den Tammen-Parr auf dem Kongress präsentiert. »Helmut Lachs hat sich angewöhnt, seiner Mutter Vorwürfe zu machen«, heißt es da aus dem Off. Jener Helmut Lachs ist ein etwa 60-jähriger Junggeselle, der seine über 80-jährige, an Demenz erkrankte Mutter zu Hause pflegt. So blendet der Sohn die Erkrankung seiner Mutter unbewusst aus, wenn er ihr beispielsweise vorhält, dass sie sich niemals bei ihm für seine Pflege bedanke. Und überhaupt sei sie ja schuld, dass er jetzt hier allein mit ihr zu tun habe, da sie alle seine Frauen vergrault habe, mit denen er in seinem Leben angebandelt hatte.

»In der Pflegebeziehung brechen oft alte Konflikte wieder auf. Wie bei diesem Beispiel das Gefühl des Sohnes, in seiner Kindheit von seiner Mutter nicht genug geliebt worden zu sein«, erläutert Tammen-Parr. Solche Konflikte würden dann oft ein Leben lang verschwiegen und nicht ausgetragen und kämen dann in der Pflegebeziehung wieder hoch. »Obwohl sich die meisten Menschen mit ihrer Familie sehr verbunden fühlen, beschreiben sie doch auch sehr oft ein mittleres bis hohes Maß an Spannungen«, berichtet die Referentin aus ihrem Beratungsalltag.

Wenn man dann noch bedenkt, dass die durchschnittliche Pflegedauer in Deutschland laut »wir pflegen« zehn Jahre beträgt, wird vorstellbar, welchen immensen psychischen Belastungen pflegende Angehörige oft ausgesetzt sind – zusätzlich zu den oft beträchtlichen körperlichen Anstrengungen. Wobei die Schwere der Pflege natürlich subjektiv unterschiedlich wahrgenommen werde, wie Tammen-Parr betont.

Hinzu komme, dass die häusliche Pflege in Deutschland nach wie vor sehr traditionell organisiert sei. Heißt: Anders als im angesprochenen Film bleibt die Pflegearbeit auch zu Hause meistens an den Frauen hängen. »Und während für viele Söhne spätestens dann der Zeitpunkt gekommen ist, die pflegebedürftige Mutter ins Heim zu geben, wenn es um deren Intimpflege geht, wird das von den Frauen oft wie selbstverständlich erwartet – auch wenn es sich zum Beispiel um den Schwiegervater handelt«, erläutert Tammen-Parr. Hier würden die Grenzen der Belastbarkeit häufig überschritten, auch weil Abwehr und Ekel genauso wie emotionale Konflikte in der Beziehung viel zu oft tabuisiert würden.

»Doch genau dann, wenn dieser bei den pflegenden Angehörigen entstehende Gefühlscocktail aus Überforderung, Verzweiflung, Mitleid, Schuldgefühlen und Wut bis zu starken Hassgefühlen unaufgearbeitet bleibt, kommt es trotz bester Absichten zu verbalen Entgleisungen bis hin zu Handgreiflichkeiten«, sagt Tammen-Parr. Daher sollten sich pflegende Angehörige nicht für ihre aggressiven Gedanken gegenüber den zu Betreuenden schämen, sondern sie als Chance nutzen und bewusst wahrnehmen. »In einem nächsten Schritt sollte man dann mit jemandem darüber reden, aber nicht unbedingt innerhalb der eigenen Familie«, rät die 69-Jährige.

Hier kommt der Verein »wir pflegen« wieder ins Spiel, der ein verlässlicher Partner für die Entwicklung gemeinsamer Lösungen zur Verbesserung der häuslichen und auch ambulanten Pflege sein will. Neben dem Bundesverband ist die noch im Aufbau begriffene Organisation derzeit auch über vier Landesvereine in Nordrhein-Westfalen, Berlin, Thüringen und Schleswig-Holstein aktiv. In weiteren Bundesländern, wie beispielsweise Niedersachsen, engagieren sich Mitglieder ehrenamtlich als regionale Landesvertreter*innen und Ansprechpartner*innen des Bundesverbands und bereiten den Aufbau weiterer Regionalstrukturen vor.

»Auch wenn ich heute viel über die kritischen Situationen in der häuslichen Pflege gesprochen habe«, sagt Tammen-Parr zum Schluss, »ist es doch so, dass wir alle die Leistung der pflegenden Angehörigen nicht genug wertschätzen können.« Die häusliche Pflege sei »der nationale Pflegedienst schlechthin«, so die Expertin. Deshalb setze sich »wir pflegen« für eine Gesellschaft ein, in der pflegende Angehörige als gleichberechtigte Partner in der Pflege bessere Unterstützung, Absicherung und Wertschätzung erfahren. Und nicht zuletzt dafür, dass sie in allen pflegepolitischen Bereichen selbstbestimmt als gleichberechtigte Partner vertreten sind.

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