Frührentner sollen mehr arbeiten

Die Ampel-Koalition hat still und leise die Erwerbsregeln für Frührentner geändert. Das klingt nur harmlos

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 7 Min.
Ruhestand? Mehr als eine Million Rentner sind bereits erwerbstätig, viele haben lediglich einen Minijob.
Ruhestand? Mehr als eine Million Rentner sind bereits erwerbstätig, viele haben lediglich einen Minijob.

Frührentner sollen mehr arbeiten. Dieses Ziel verfolgt die Ampel-Koalition mit neuen Hinzuverdienstregeln, die sie im Dezember eher nebenbei und ohne größere Debatten beschlossen hat. Faktisch wird damit auch die Frührente gefördert, die eben noch heftig in der Kritik war. Das macht stutzig. Der Sozialwissenschaftler Gerhard Bäcker von der Uni Duisburg-Essen erwartet denn auch, dass die Neuregelung erhebliche sozialpolitische Folgen haben wird, zum Nachteil von Beschäftigten.

Mit der Gesetzesänderung will die Ampel Rentner das Weiterarbeiten schmackhaft machen. So gibt es seit Januar keine Hinzuverdienstgrenzen mehr für Frührentner. Sie können voll weiterarbeiten und Gehalt in beliebiger Höhe beziehen, ohne dass dies auf die Rente angerechnet wird. Durch diese »Flexibilität beim Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand kann ein Beitrag geleistet werden, dem bestehenden Arbeits- und Fachkräftemangel entgegenzuwirken«, so die Begründung des Gesetzgebers.

Für eine Gruppe eine lohnende Sache

Die neue »Flexibilität« ist zunächst einmal insbesondere für eine Gruppe eine lohnende Sache: für Menschen, die schon lange berufstätig sind, ordentlich verdienen und nicht so früh wie möglich raus wollen aus dem Job: Wer 45 Versicherungsjahre erreicht hat, kann rund zwei Jahre vor der Regelaltersgrenze in Rente gehen, und zwar ohne Abschläge. Diese sogenannte »Rente mit 63« ist derzeit frühestens ab dem 64. Lebensjahr möglich. Wer die Voraussetzungen dafür erfüllt und weiterarbeiten will, kann nun einfach parallel zum Job in Rente gehen. Die Menschen erhalten dann ihr Gehalt und zusätzlich ihre Rente, beides in voller Höhe.

»Für diese Personen gibt es keinen Grund mehr, die abschlagsfreie Rente nicht in Anspruch zu nehmen – es sei denn, sie kennen die Neuregelung nicht«, sagt Bäcker »nd.DieWoche«. In seiner Stellungnahme zu der Gesetzesänderung vor dem Bundestagsausschuss für Arbeit und Soziales hat er dies an einem Beispiel verdeutlicht: Ein Angestellter verdient brutto 5000 Euro im Monat, geht mit 64 Jahren in Frührente und arbeitet einfach weiter. Dann erhält er neben seinem Nettogehalt von knapp 3000 Euro zusätzlich eine Nettorente von rund 1600 Euro.

Für Gutverdienende gibt es noch einen kleinen Zusatzbonus obendrauf: Angenommen, ihr Einkommen steigt durch die Rente über die Beitragsbemessungsgrenze. Dann werden die Krankenkassenbeiträge auf Antrag für den Teil des Einkommens erstattet, der über dieser Grenze liegt.

»Die Rente mit 63 wird zu einem Geldgeschenk, wenn einfach weitergearbeitet werden kann und es keine Abschläge gibt. Es fällt schwer, das nachzuvollziehen«, sagt der Ökonom Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) »nd.DieWoche«. Denn wer 45 Versicherungsjahre nachweisen kann, gehöre meist nicht zu den Bedürftigen. »Begünstigt werden die gesundheitlich Leistungsfähigen mit einem in der Regel höheren Einkommen, die weiterarbeiten können und wollen«, betont auch Bäcker.

Mehr Frührenter*innen?

Er erwartet, dass durch die Gesetzesnovelle die Zahl und der Anteil der Frührenten steigen werden. Vermutlich würden auch mehr Menschen nach 35 Jahren mit Abschlägen vorzeitig in Rente gehen und parallel dazu wie ohnehin geplant weiterarbeiten. Wie stark der von der Ampel geförderte Frührenten-Anstieg ist, ist ungewiss. Gerade die abschlagsfreie Frührente ist bereits sehr beliebt und niemand weiß, wie viele Menschen es gibt, die bisher ihren Anspruch nicht nutzen. Der Rentenexperte Johannes Geyer vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat sich der Frage anders angenähert: Daten der Rentenversicherung zeigen, dass im Jahr 2021 gut 22 000 Menschen erst mit 65 Jahren in die vorgezogene Rente gegangen sind. Vermutlich hätten etliche von ihnen dies schon eher tun können. »Für diese Menschen macht es nach Abschaffung des Hinzuverdienstdeckels absolut Sinn, früher in Rente zu gehen«, sagt Geyer »nd.DieWoche«.

Die abschlagsfreie Frührente ist zwar bei Beschäftigten sehr beliebt, politisch aber heftig umstritten. Sie ist erst kürzlich wieder massiv kritisiert worden, von Politikern der FDP, der CDU/CSU und der Arbeitgeberlobby. Wenn nun die Ampel-Entscheidung die Zahl der Frührentner steigen lässt, dürften die Angriffe heftiger werden.

Nicht nur deswegen ist Bäcker sicher: »In der nächsten Legislaturperiode wird die abschlagsfreie Rente fallen.« Der vielleicht wichtigste Grund ist für ihn, dass der Gesetzgeber die Begründung für vorgezogene Altersrenten ins Gegenteil verkehrt hat: Bislang sollten damit Beschäftigte begünstigt werden, die ein langes und belastendes Arbeitsleben hinter sich haben. »Sie sollten von der Notwendigkeit einer noch längeren Erwerbsarbeit entbunden werden«, sagt Bäcker. »Nun sollen sie angesichts des Fachkräftemangels möglichst uneingeschränkt weiterarbeiten.« Damit verliert die Frührente ihre Legitimation. Verstärkt wird dies, wenn viele Menschen wie geplant weiterarbeiten und nun das Rentengeschenk der Ampel eben mitnehmen.

Wer das Nachsehen hat

Das Nachsehen haben Menschen, die nach Jahrzehnten Erwerbstätigkeit nicht mehr können oder wollen und schlicht in Ruhestand gehen möchte, ohne Kombijob.

Die Neuregelung ist aus Bäckers Sicht in der politischen Debatte auch für andere Zwecke gut nutzbar. Jetzt könne man auf die »unbegrenzte Möglichkeit, die Altersrenten durch ein Erwerbseinkommen aufzustocken«, verweisen. »Deswegen wird die Aussage kaum auf sich warten lassen, dass eine weitere Heraufsetzung der Regelaltersgrenze, verbunden mit höheren Abschlägen bei einem vorgezogenen Rentenbezug, finanziell nun durchaus verkraftbar sei«. Politisch naheliegend sei jetzt auch das Argument: Ein niedriges oder abgesenktes Rentenniveau führe dank möglicher Erwerbseinkommen zu keiner Versorgungslücke.

Wenn es so weit kommt und die Renten noch niedriger werden, verwandelt sich die Möglichkeit, unbegrenzt hinzuzuverdienen, für mehr Menschen in einen Zwang: »Was zunächst freiwillig war, wird dann zunehmend zu einem Muss«, sagt der Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch von der Uni Duisburg-Essen.

In jedem Fall verschwimmt die Grenze zwischen Erwerbsarbeit und Ruhestand noch stärker. Schon länger können Menschen, die die Regelaltersgrenze erreicht haben, unbegrenzt hinzuverdienen. Gut eine Million war zuletzt geringfügig oder sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Rund zwei Drittel von ihnen hat laut Geyer lediglich einen Minijob.

Auch unter Frührentnern arbeiten bereits etliche, wie die Deutsche Rentenversicherung »nd.DieWoche« auf Anfrage mitteilte. So gab es Ende 2021 rund eine Million Frührentner, die die Regelaltersgrenze noch nicht erreicht haben. Davon arbeiteten 15 Prozent in einem Minijob mit maximal 450 Euro im Monat. Fünf Prozent erzielten ein höheres Einkommen als sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Ihre Zahl ist 2020 deutlich gestiegen. Denn in der Pandemie hat die Politik die Hinzuverdienstgrenze bereits stark erhöht, von 6300 Euro auf über 44 000 Euro. Die Anhebung war befristet, nun gibt es gar keine Grenze mehr.

Mittel gegen Arbeitskräfteknappheit?

Bosch ist skeptisch, ob damit das eigentliche Ziel erreicht und der Arbeitskräftemangel kurzfristig gemildert wird. Allenfalls ein »Minibeitrag« sei denkbar. Dies ist auch deswegen plausibel, weil die absolute Zahl der Frührentner, die zuletzt über der Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euro im Monat verdient hat, trotz des Anstiegs mit 54 000 Menschen recht überschaubar ist. Enzo Weber erwartet nicht, dass viele Menschen deshalb aus der Rente in den Arbeitsmarkt zurückkommen. Vorstellbar und positiv zu sehen sei aber, dass einige nun ihre bisherige Tätigkeit länger fortsetzen als ohnehin geplant. Bekannt sei jedenfalls, dass insbesondere einige kleine Betriebe derzeit versuchen, Beschäftigte länger zu halten. Dies gelinge am besten, wenn die Leute ihre Wunsch-Arbeitszeit erhalten und sie beispielsweise kürzer arbeiten können.

Für Unternehmen ist es in jedem Fall günstig, wenn sie bei Bedarf auf Rentner als Arbeitskräfte zurückgreifen können und wenn die Vorstellung verblasst, dass Rente Ruhestand bedeutet. So schreibt die Arbeitgebervereinigung BDA in ihrer Stellungnahme für den Bundestagsausschuss: »Mit einem vollständigen Wegfall von Hinzuverdienstgrenzen wird das klare Signal gesetzt, dass der Bezug einer Altersrente der Fortsetzung oder Neuaufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht entgegensteht.«

* Wir haben die Passage zu den Krankenversicherungsbeiträgen geändert, weil sie missverständlich war.

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