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Röntgen: Strahlender Durchblick per Zufall

Vor 100 Jahren starb Wilhelm Conrad Röntgen. Seine Entdeckung revolutionierte nicht nur die Medizin.

  • Eckart Roloff
  • Lesedauer: 8 Min.
Wilhelm Conrad Röntgen hatte stets im Sinn, irgendetwas zu erfinden.
Wilhelm Conrad Röntgen hatte stets im Sinn, irgendetwas zu erfinden.

Dem Bild des Tüftlers, des einsamen Forschers, der Tage und Nächte in seinem Labor sitzt, umgeben von Apparaten, einem Rätsel auf der Spur, dem Durchbruch – dem entsprechen wahrscheinlich die wenigsten Wissenschaftler. Auf Wilhelm Conrad Röntgen trifft es zu.

Auf den Spuren Röntgens


Mit seinem Namen unterwegs sein – dafür ist dieses Buch ein sehr guter Begleiter: Unter dem Titel »Wilhelm Conrad Röntgen – den X-Strahlen auf der Spur« ist im Verlag Nünnerich-Asmus (Oppenheim) für 18 Euro der Wegweiser dafür erschienen, herausgegeben von Uwe Busch und Wilfried Rosendahl. Auf 136 Seiten mit 121 gelungenen Abbildungen stellt er nicht weniger als 50 Stätten vor, darunter natürlich die Röntgen-Museen in Remscheid-Lennep und in Würzburg, die für Röntgens Leben und für die Entdeckung, Geschichte und Nutzung »seiner« Strahlen wichtig waren. Die Routen führen unter anderem aber auch nach Apeldoorn, Zürich, Utrecht, Straßburg, zu Röntgens Grab in Gießen, nach München, Berlin, Hamburg und Mannheim, ja sogar zu Röntgens Urlaubsorten Pontresina, Muottas Muragl und im Engadin. Vorgestellt werden ebenso die im Text erwähnten Orte Baruth/Mark und Cursdorf in Thüringen. Sie waren maßgebend mit Blick auf die für Röntgen so nützlichen Röhren. Eckart Roloff

Röntgen erlebte seinen Durchbruch am 8. November 1895 in Würzburg; da war er 50 Jahre alt. Vor 100 Jahren, am 10. Februar 1923, ist er in München an Darmkrebs gestorben, mit Dutzenden von Auszeichnungen bedacht. Er, der 1901 den ersten Nobelpreis für Physik bekommen, aber nicht einmal das Abitur hatte. Die Technische Schule Utrecht verpasste ihm in Physik sogar die Note »sehr schlecht«.

Wie gut, dass es ihn immer wieder gibt: den Zufall. Und all die anderen Entwicklungen, hinter denen er in stets neuen Varianten steckt. Hinter der Kernspaltung etwa, den Kartoffelchips und dem Tesafilm, dem Nylon, dem Lachgas, dem Penicillin und dem Mikrowellenherd, dem Teebeutel, dem Herzschrittmacher und und und.

Der Wissenschaftsjournalist und Biologe Martin Schneider bemerkt in seinem Buch »Teflon, Post-it und Viagra. Große Entdeckungen durch kleine Zufälle« zu Röntgen: »Er hatte nichts weniger im Sinn, als irgendetwas zu erfinden«. Schneider zitiert dessen Satz: »Ich fand durch Zufall, dass diese Strahlen durch schwarzes Papier drangen.«

Diese Strahlen – gemeint sind Kathodenstrahlen, mit denen sich auch andere Forscher befassten. Röntgen hatte nach etlichen Vorarbeiten bemerkt, dass sie bei beträchtlicher elektrischer Spannung dank spezieller Röhren ein Licht erzeugen, das mehrere Materialien durchdringt. Was es mit der Herstellung von Kathodenstrahlröhren auf sich hatte, zeigen bis heute die Glasmuseen in Baruth im südlichen Brandenburg und Cursdorf in Thüringen (siehe Infokasten).

Doch wie weit ging das mit dem Durchdringen? Um die Grenzen zu finden, versuchte Röntgen, die starken Strahlen zu stoppen, indem er – kurz gefasst – etliche Objekte vor eine Entladungsröhre stellte. Beim Test mit einer kleinen Bleischeibe sah er immer wieder zwei Schatten: den der Scheibe und den seiner Handknochen. Hantierte er mit Schrotkugeln aus seinem Gewehr (als Jäger hatte er so etwas), waren auch die zu erkennen.

Was für eine Überraschung, kaum zu glauben! Er erzählte seiner Frau Bertha davon und bat sie, mit ihrer Hand dabei zu sein und sie minutenlang stillzuhalten. So entstand am 22. Dezember 1895 eines der ersten Röntgenbilder, bald berühmt auch wegen Berthas Eherings an der rechten Hand. Der ist an ihrem Fingerknochen zu sehen und ging in die Literatur ein.

Schon wenige Tage später erschien in einem Heft der Würzburger Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft Röntgens Arbeit, überschrieben »Über eine neue Art von Strahlen« – ähnlich bescheiden wie Robert Kochs Vortrag »Über Tuberkulose«. Darin ging es um nichts weniger als die lange herbeigesehnte Entdeckung des TBC-Erregers, die Koch 1882 erreicht hatte.

Röntgens Strahlen, von ihm zunächst noch X-Strahlen genannt, führten – und das ist nicht zu hochgegriffen – zu etwas Revolutionärem: Menschen, sogar lebendige Menschen, waren durchsichtig geworden. Das sorgte rasch für einen Presserummel ohnegleichen; die Zeitungen kamen mit den Schlagzeilen kaum nach. Bewunderung und Skepsis kämpften gegeneinander. Schon kurz danach lud Kaiser Wilhelm II. Röntgen ein, ihm die Sache mit den Strahlen vorzuführen. So kam es dann auch.

Manche Fachleute dachten eher an ein Märchen. Angesichts des schier Unglaublichen gab es Witze und Karikaturen zuhauf – bis heute. Man sprach von Schwindel und Humbug. Doch es stimmte, was der Pneumologe Wilhelm Roloff 1948 in seinem Buch zur Lungentuberkulose schrieb: »Die Röntgenuntersuchung ist das überragende und unentbehrliche Mittel für die exakte Diagnostik der Lungentuberkulose.«

Soweit nur ein Beispiel aus den Massen an Literatur, die über Röntgen und zum Röntgen vorliegen. Auch wurden begehrte Preise nach ihm benannt, Straßen, Plätze, Berufe und Gesellschaften. Wie praktisch auch, dass sich aus dem Namen Röntgen ein gleichlautendes Verb machen ließ! Doch zunächst war nicht einmal erkennbar, wozu diese Strahlen sonst noch nützlich sein könnten, etwa in der Archäologie, Kunst, Atomphysik und Materialprüfung. Selbst das Wachstum von Korallen kann mit ihnen nachgewiesen werden.

1901 geschah dann dies: Da wurden die ersten Nobelpreise zuerkannt, darunter der für Physik – und den erhielt Röntgen. Am 10. Dezember kam es in Stockholm zur höchst feierlichen Übergabe. Genau sechs Jahre zuvor war der schwedische Stifter und Erfinder Alfred Nobel gestorben und hatte ein durchaus spendables und folgenreiches Testament hinterlassen.

Es gibt weltweit wohl – neben den Krönungen und Beerdigungen von Monarchen – nur wenige Zeremonien, die so festlich, aber auch festgezurrt vor sich gehen, mit strengem Protokoll und minutiösem Ablauf. Beim Nobelpreis kommt eine Pflicht hinzu, die dem verständlichen Vermitteln von Wissenschaft dienen soll: ein Vortrag der Preisträger über ihr soeben prämiertes Werk. So klug legen das die Statuten von Anfang an fest.

Auch bei Röntgen schien dies sicher: Er würde seinen Vortrag halten, und das vor einem für ihn ungewohnten, sehr gemischten Publikum. Röntgen fuhr zwar nach Stockholm – das Königlich Bayerische Kultusministerium als Arbeitgeber hatte seinen Reiseantrag rasch bewilligt – und nahm den Preis aus der Hand König Oscar II. entgegen. Er dankte ihm knapp, doch der avisierte Vortrag entfiel.

Warum das? Röntgen war dazu nicht bereit. Er, der als Universitätslehrer in Würzburg, Straßburg, Gießen und München schon unzählige Male aufgetreten war und zwar als scheuer Mensch, aber doch als guter Redner galt, hatte offenbar heftige Probleme, dies auch hier zu zeigen.

Nun war es gestattet, den Vortrag später zu halten, doch bitte höchstens sechs Monate danach. Erlaubt sind sogar ein paar Prisen Humor. Doch Röntgen reiste schon am 11. Dezember ab. Zuvor hatte er dem Preiskollegium mitgeteilt, »dass ich noch nicht sagen kann, ob ich einen Vortrag bald nach der Verleihung halten kann«. Nähere Gründe nannte er nicht. In Schweden war man so freundlich, ihm einen Termin erst nach dem dort langen Winter vorzuschlagen: den 21. Mai 1902.

Doch auch das gefiel Röntgen nicht. Er fragte die Herren, ob es möglich sei, dass »ich meinen Vortrag erst Ende Juli oder Anfang August hielte«, da dann in Bayern Semesterferien seien und er nicht schon wieder Urlaub beantragen wolle. Nun, diesem Laureaten wäre der wohl gewährt worden. Die Stiftung ist so großzügig (oder genervt), ihm Zeit bis zum Herbst zu geben. Röntgen quittiert das mit dem Geständnis, der Aufschub habe ihn »wie von einem Alp befreit«.

Wird der Fall nun pathologisch, ruft nach spezieller Untersuchung? Immerhin teilt Röntgen der Akademie mit, in Stockholm am 2. Oktober referieren zu wollen. In einem Brief gesteht er dazu jedoch: »Es ist der erste öffentliche Vortrag, den ich zu halten habe, und ich habe, was man darf, Lampenfieber.« Hätten Röntgenbilder seine Selbstdiagnose dokumentieren können?

Die Diskrepanz zwischen Vorlesungen vor unzähligen Studenten und dem einen Auftritt als hochdekorierter Forscher, der zuvor schon oft ausgezeichnet worden war, bleibt rätselhaft. Wir wissen nur, dass er keinen Rummel um seine Person mochte.

In einem Schreiben aus Stockholm hieß es später, dass ein Vortrag »nach den Statuten zwar erwünscht, aber nicht unbedingt notwendig ist« – eine allzu freihändige Auslegung, die Röntgen begeistert haben muss. Dem freilich folgte ein Telegramm vom Komitee: »Vielleicht besser zu kommen.« Das hinderte den Lampenfiebrigen nicht, wie sein Biograf Albrecht Fölsing anmerkt, »in völlig verquerer Logik den Schluss zu ziehen, nicht zu reisen«. Fölsing spricht von Röntgens »konfusen Zumutungen bar jeder Stringenz«.

Nun, es blieb bei Röntgens Nicht-Reise. Angelika Schedel verweist in ihrer Biografie darauf, wie Röntgens Frau Bertha sich dazu äußerte: »Mein Schatz freut sich furchtbar«, dass aus der Fahrt nichts werde. Zwei Jahre danach bekam er den Band mit den Vorlesungen von damals. Darin war vermerkt, dass der Preisträger für Physik keinen Vortrag gehalten habe.

Auch auf einem anderen Gebiet bewies er Ungewöhnliches: Röntgen war fest davon überzeugt, dass »seine Erfindungen und Entdeckungen der Allgemeinheit gehören«. Deshalb dürfen sie »nicht Patenten, Lizenzverträgen u. dgl. einzelner Unternehmungen vorbehalten bleiben«. Er hatte ferner erfahren, dass die US-Vertreter großer Firmen die ersten waren, »die ihm Millionen vor seine Augen hielten«. Die wollte er nicht; auch war er finanziell ohnehin recht gut gestellt.

Für Röntgen war es entscheidender, dass die »neuen Strahlen überall schnell zum Einsatz kamen anstatt sie zu seinem persönlichen Vorteil zu vermarkten«, bemerkt der Wissenschaftsjournalist Norbert Lossau dazu in seinem Bildband »Röntgen. Eine Entdeckung verändert unser Leben«. Der Gang durch die verschlungenen Wege und Abwege des Patentrechts mit dessen Instanzen hätte die Nutzung verzögern können.

Erforderlich wäre es ferner gewesen, für den alleinigen Schutz die Prinzipien der Entdeckung in allen Details offenzulegen – Patent kommt vom lateinischen patere für öffnen. Anders als Röntgen waren seinem Zeitgenossen Robert Koch hingegen solche Schutzrechte sehr wichtig.

Heute spielen Patente beim Blick auf Geschäfte im Zuge der Corona-Pandemie und möglicher Millionen (oder Milliarden?) durch Impfstoff-Gewinne eine erhebliche Rolle.

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