Wahnsinniger Narzisst?

Peter Longerich über Goebbels’ Aufruf zum »totalen Krieg« vor 80 Jahren

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 3 Min.

Joseph Goebbels war »der eigentliche Exekutor des Führerwillens«, schreibt der Historiker Peter Longerich. Der Propagandaminister sei »der engste Vertraute und politische Mitarbeiter« Hitlers gewesen, so größenwahnsinnig wie jener und jenem zutiefst ergeben. Und dennoch war Goebbels an den »zentralen Entscheidungsprozessen nur am Rande beteiligt«, so der Historiker. Vom Überfall auf die Sowjetunion, den Hitler bereits seit Sommer 1940 plante, habe dieser erst ein halbes Jahr später, im März 1941, erfahren. Und doch: Die berüchtigte Sportpalast-Rede von Goebbels am 18. Februar 1943 markierte einen Wendepunkt.

Im November 1942 war es zur Niederlage der deutschen Wehrmacht in Afrika gekommen, im Winter 1942/43 kam es zur Katastrophe bei Stalingrad. »Das ›Dritte Reich‹ war endgültig in die Defensive geraten«, bemerkt Longerich. Zugleich wurde bis Ende 1942 der Öffentlichkeit zunehmend bewusst, dass ein systematischer Massenmord an den Juden stattfand. Anfang Dezember 1942 postuliert Goebbels in seinem Tagebuch, »die Judenfrage einer radikalen Lösung zuzuführen«. Die Hetzrede vom Februar 1943 im Berliner Sportpalast sollte dazu dienen, »den Deutschen deutlich zu machen, dass sie längst Zeugen und Komplizen eines gigantischen Verbrechens geworden waren«.

Goebbels selbst war sich darüber im Klaren, dass eine Niederlage von Hitlers Reich auch sein Ende bedeuten würde. Entweder – oder, einen Mittelweg gab es in seinen Überlegungen nicht. Verzweifelter letzter »totaler Krieg« oder Untergang mit allen Konsequenzen und Abrechnung durch die Siegermächte. Dies war die Quintessenz von Goebbels’ Kampfrede, zwei Jahre vor Kriegsende.

Im ersten Kapitel schildert Longerich die Vorgeschichte, »von der Siegesstimmung im Sommer 1942 bis zur Winterkrise 1942/43«, wie die Überschrift lautet. Im Hauptteil dokumentiert und kommentiert er auf 80 Seiten Goebbels’ Rede, sich stützend auf die Tonaufnahme, das heißt inklusive Zwischenrufen und Stimmungen aus dem Publikum. Longerich interpretiert und analysiert also nicht nur Goebbelschen Wortlaut, sondern stellt durch die dokumentierten Zwischenbemerkungen auch die »Interaktion zwischen Redner und Publikum« dar, »im Sinne eines ›Gesamtkunstwerks«, wie der Historiker anmerkt.

In dritten Teil schließlich – »Nach der Rede« – fasst Longerich Reaktionen zusammen, wobei er in erster Linie Zeitungen in den Blick nimmt. Darin stößt er gar auf kritische Andeutungen in der Nazipresse und NS-Institutionen. In einem Bericht vom Sicherheitsdienst des Reichsführers SS, dem SD, findet sich die distanzierende Bemerkung, dass der »propagandistische Zweck (…) allzusehr zum Bewußtsein gekommen« sei, das heißt, die Rede sei allzu leicht als reine Propaganda-Inszenierung zu erkennen gewesen. Auch aus der gleichgeschalteten Justiz und sogar in Berichten der Reichspropagandaämter habe es kritische Töne gegeben. 

Und die politischen Auswirkungen der Rede in der Welt? Das Echo im Ausland? Dazu hatte der Historiker Iring Fetscher vor rund 25 Jahren in einer vergleichbaren Arbeit zur Sportpalast-Rede erste Studien unternommen. Longerich hat sich weitere Forschungen dazu erspart und sich mit einem knappen Überblick und Zusammenfassungen begnügt.

Vor über zehn Jahren hat Longerich eine beinahe tausend Seiten starke Goebbels-Biografie veröffentlicht. Im vorliegenden Buch kristallisiert er nun anhand von Goebbels’ exzessiven Tagebüchern und Propagandagetöse eine krankhaft narzisstische Persönlichkeit heraus. Ob dies genügt?

Peter Longerich: Die Sportpalast-Rede 1943. Goebbels und der »totale Krieg«. Siedler, 208 S., geb., 24 €.

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