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SIS: EU-Fahndungsdatenbank in neuer Version

Zahl europaweit ausgeschriebener Personen überschreitet Millionengrenze

Laut dem Schengener Abkommen darf an Binnengrenzen nicht mehr kontrolliert werden, mit dem SIS gibt es seitdem aber eine virtuelle Grenze.
Laut dem Schengener Abkommen darf an Binnengrenzen nicht mehr kontrolliert werden, mit dem SIS gibt es seitdem aber eine virtuelle Grenze.

Die EU-Kommission hat heute das aktualisierte Schengener Informationssystem (SIS) in Betrieb genommen. Nach einer Änderung der Verordnung wird diese größte europäische Fahndungsdatenbank um neue Ausschreibungskategorien erweitert. Zur Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus kann etwa nach »unbekannten gesuchten Personen« anhand ihrer Fingerabdrücke gefahndet werden.

Zu den Neuerungen gehört auch die Suche nach vermissten Personen anhand biometrischer Daten, darunter auch Handabdrücke und DNA-Datensätze. Zu »gefährdeten Personen« können außerdem »Präventivwarnungen« in das SIS eingetragen werden. Dies betrifft etwa Kinder, denen die Entführung droht oder potenzielle Opfer von Terrorismus, Menschenhandel, geschlechtsspezifischer Gewalt sowie »bewaffneten Feindseligkeiten.

Das SIS wird für allgemeine Zwecke von «Sicherheit und Grenzmanagement in Europa» genutzt. Mit Irland nehmen 31 Länder am SIS II teil, darunter auch die Nicht-EU-Staaten Island, Norwegen, Liechtenstein und die Schweiz. Deren Polizeien und Geheimdienste können darüber Fahndungen eintragen und abfragen, viele andere Behörden wie etwa Ausländerämter oder Zulassungsstellen dürfen das System für Suchläufe nutzen. Zuletzt wurde dieser Kreis um Zehntausende weiterer Behörden und privater Stellen erweitert.

Die verschiedenen Fahndungskategorien des SIS.
Die verschiedenen Fahndungskategorien des SIS.

Die EU-Kommission lobt das SIS meist als Fahndungssystem im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen, etwa für von der Polizei zur Festnahme gesuchte Personen, Vermisste sowie Autos und Schusswaffen. Mit rund 85 Millionen Einträgen werden vorwiegend verlorene oder gestohlene Gegenstände im SIS ausgeschrieben. 2022 haben die Teilnehmerstaaten fast 13 Milliarden Abfragen durchgeführt.

Die Kommission verschweigt jedoch, dass sich das SIS hauptsächlich gegen abgelehnte Asylsuchende richtet. Über die Hälfte der Personenfahndungen betreffen gemäß Artikel 24 des SIS II-Beschlusses sogenannte «Drittausländer», die zur Einreiseverweigerung oder Ausweisung ausgeschrieben sind. Ein solcher Eintrag kann etwa nach einer Abschiebung erfolgen.

Dieser Zweck zur Migrationsabwehr wird mit den heute eingeführten, aktualisierten Funktionen sogar noch erweitert. Neben Europol und den nationalen Einwanderungsbehörden erhält nun auch die Grenzagentur Frontex Zugang zu allen Ausschreibungskategorien im SIS. Zur «Verhinderung und Abschreckung irregulärer Migration» werden außerdem sogenannte Rückführungsentscheidungen Teil der im System ausgetauschten Informationen. Damit können abgelehnte Asylbewerber auch bei einer Polizeikontrolle festgestellt werden. Die Staaten können damit auch verfolgen, ob die «zurückzuführende Person» das EU-Gebiet tatsächlich verlassen hat.

Auch ohne die neuen Funktionen ist das SIS in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. Obwohl Großbritannien mit dem Brexit aus dem System aussteigen und seine beträchtlich vielen Einträge löschen musste, hat die Zahl der Personenfahndungen jüngst die Millionenmarke überschritten. Dies zeigen Zahlen, die von der Agentur für das Betriebsmanagement von IT-Großsystemen (eu-LISA) jährlich veröffentlicht werden.

Das jetzige Upgrade des SIS ist noch nicht das Ende der Fahnenstange. Noch in diesem Jahr will die EU ihr «Einreise-/Ausreisesystem» (EES) in Betrieb nehmen, mit dem alle Reisenden aus Drittstaaten Fingerabdrücke und Gesichtsbilder abgeben müssen. In einem «Europäischen Reiseinformations- und -genehmigungssystem» (ETIAS) müssen vorher über ein Internetformular Angaben zum Reiseverlauf gemacht werden. Mit diesen beiden Systemen soll das SIS zu einer «Interoperabilitätsarchitektur» verschmelzen. Die Kommission bezeichnet die so entstehende Plattform als «das modernste Grenzverwaltungssystem der Welt».

Jedoch ist das SIS auch ein nützliches Fahndungssystem für europäische Geheimdienste. Zusammen mit Polizeien können sie dort verdeckte oder offene Fahndungen nach Artikel 36 eintragen, bei denen die Betroffenen nicht verhaftet oder festgehalten werden. Geraten diese in eine Polizei- oder Grenzkontrolle, erfolgt eine Meldung an die ausschreibende Behörde. Diese erhält dann Angaben zur Reiseroute, dem genutzten Verkehrsmittel und Mitreisenden.

Zahlenmäßig liegen diese Ausschreibungen zur Observation, Kontrolle oder «Ermittlungsanfrage» an zweiter Stelle. Schengenweit werden so rund 12.000 Personen von Geheimdiensten heimlich getrackt, rund 150.000 weitere durch europäische Polizeien. Mit Abstand die meisten Einträge (über 100.000) kommen dabei ausweislich einer aktuellen Antwort auf eine Kleine Anfrage aus Frankreich, an zweiter Stelle steht Deutschland (rund 4.700) – Tendenz weiter steigend.

Der neueste Trend ist jedoch die Abfrage durch Kennzeichenscanner, wie sie in immer mehr Ländern am Rande der Autobahn aufgestellt werden. Die vorbeifahrenden Fahrzeuge werden dabei automatisch mit nationalen Polizeidatenbanken sowie dem SIS abgeglichen. Diese automatisierten Abfragen haben sich im letzten Jahr in etwa verdoppelt. So entwickelt sich das SIS immer mehr zum Bevölkerungsscanner, der mit seinen alten und neuen Funktionen eigentlich deutlich mehr Kritik verdient hätte.

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