Visum für russische Kriegsverweigerer: Zwischen zwei Welten

Das sogenannte Künstlervisum in Berlin bietet Russ*innen eine der wenigen Möglichkeiten, längerfristig in Deutschland unterzukommen

Mit dem Kopf in Moskau: Die deutsche Hauptstadt kann auch für russische Staatsbürger*innen zum Zufluchtsort werden.
Mit dem Kopf in Moskau: Die deutsche Hauptstadt kann auch für russische Staatsbürger*innen zum Zufluchtsort werden.

Ilja Krasilnikow* ist angekommen, zumindest vorerst. Für die nächsten Jahre kann der russische Künstler in Berlin leben und arbeiten – ohne befürchten zu müssen, von der Regierung seines Heimatlandes an die Front geschickt zu werden. Als russischer Kriegsverweigerer in Deutschland Asyl zu erhalten, ist alles andere als einfach. In einer Altberliner Kneipe erzählt Krasilnikow »nd«, wie er nun doch in der deutschen Hauptstadt gelandet ist. Sein eleganter, dunkler Trenchcoat steht im Kontrast zu den blinkenden Spielautomaten, vor denen er sitzt.

»Während dieses bürokratischen Prozesses befindet man sich in der Schwebe, ich hing irgendwo zwischen zwei verschiedenen Welten«, sagt Krasilnikow über seinen Weg zur Aufenthaltserlaubnis, der Monate gedauert hat. Diese Zeit der Verunsicherung verarbeitete der Russe in seiner Kunst. Bilder, Zeichnungen und Skulpturen konnte er bereits vor seiner Zeit in Deutschland in ein paar Berliner Galerien ausstellen. Nun schafft das sogenannte Künstlervisum, genauer: die Aufenthaltserlaubnis zur freiberuflichen Tätigkeit als Künstler, die Voraussetzung für viele weitere Projekte in der Hauptstadt.

Seinen Aufenthaltstitel verdankt Krasilnikow unter anderem Bekannten und Freund*innen in Berlin, die ihn auf seinem Weg unterstützt haben – und zu einem nicht geringen Teil dem puren Glück: Nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn der russischen Vollinvasion in die Ukraine, beschließt Krasilnikow zunächst, Russland für einige Monate zu verlassen, um der kriegerischen Stimmung im Land zu entkommen. »Ich konnte es nicht mehr ertragen«, erinnert sich der Künstler. Er reist nach Istanbul und Italien – und kehrt dann doch nach Moskau zurück, bleibt dort aber unglücklich. »Ich war in einem so emotionalen Zustand, dass ich nicht arbeiten konnte. Diese Art von Erfahrung habe ich noch nie zuvor gemacht«, sagt er. »In meinem Freundeskreis ging es letztlich allen so.«

Auch generell schrumpfen die Möglichkeiten für Krasilnikow, weiter als Künstler in Moskau tätig zu sein: Die Arbeit an Instituten wird komplizierter, der Raum für das Ausdrückbare kleiner. Obwohl sich Krasilnikow nicht als politischen Künstler begreift, fühlt er sich in seiner Arbeit eingeschränkt. Er beginnt zu grübeln: »Ich hatte die Wahl, zu fliehen oder mich zu verstecken.« Krasilnikow entscheidet sich zunächst fürs Verstecken, denn in Moskau hat der Künstler Freund*innen und Familie, auch Kinder.

Schließlich erhält der Russe ein Angebot, sich an einer Ausstellung in Deutschland zu beteiligen, und nimmt an. So befindet sich Krasilnikow gerade mit einem Schengen-Visum in Deutschland, als Russlands Präsident Wladimir Putin Ende Oktober 2022 die Zwangsmobilisierung hunderttausender junger Russen verkündet. »Alle meine Leute haben mir gesagt, dass ich bloß nicht zurückkommen soll, wenn ich sowieso schon draußen bin«, sagt Krasilnikow. Er beschließt, zu bleiben, kommt bei Bekannten aus der Kunstszene in Berlin unter. »In dieser Zeit habe ich gelernt, was Freundschaft wirklich bedeutet.«

Muckefuck: morgens, ungefiltert, links

nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik - aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin - ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.

Dieselben Kreise berichten Krasilnikow von der Möglichkeit, sich um ein spezielles Künstlervisum zu bemühen. »Von allein wäre ich niemals darauf aufmerksam geworden«, sagt er. »Ich bin schon in Russland mit der Bürokratie nie klargekommen und in Deutschland funktioniert das erst recht nicht.« Bundesweit besteht für Freiberufler*innen die Möglichkeit, eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland zu erlangen – sofern von der eigenen Arbeit positive ökonomische oder kulturelle Auswirkungen zu erwarten sind, wie es auf der Website des Landes Berlin heißt. Die Regelung kann theoretisch bei etlichen Berufsgruppen greifen: Ingenieur*innen, Sprachlehrer*innen, Ärzt*innen, Architekt*innen.

Geht es um Künstler*innen, stellt die Hauptstadt im Vergleich zu Restdeutschland in gewisser Hinsicht eine Besonderheit dar. Wie das Berliner Landesamt für Einwanderung (LEA) auf Anfrage von »nd« mitteilt, müssen die Erteilungsvoraussetzungen zwar auch hier wie im Rest des Landes angewandt werden. Allerdings geht das LEA von einem »übergeordneten wirtschaftlichen Interesse der Kunst- und Filmhauptstadt Berlin« aus. Der Ermessensspielraum, heißt es von Seiten des Amtes, werde »weit zugunsten der Kunstschaffenden« genutzt. Die jeweilige Staatsangehörigkeit selbst soll dabei keine Rolle spielen.

Trotzdem ist es alles andere als leicht, an die begehrte Aufenthaltserlaubnis heranzukommen. Von Antragsteller*innen fordert das LEA diverse Dokumente, darunter einen Lebenslauf, Nachweise über die berufliche Tätigkeit und regelmäßige Einkünfte, Absichtserklärungen von Arbeitsparter*innen und eine Bescheinigung über die Anmeldung einer Wohnung in Berlin. Gerade diese stellt auf dem umkämpften Berliner Wohnungsmarkt eine Herausforderung dar, auch wenn das LEA darauf verweist, dass bereits ein Untermietvertrag oder die Aufnahme in eine Wohngemeinschaft ausreichten.

Krasilnikow darf sich für seinen Antrag bei Bekannten melden und lässt Kolleg*innen für sich bürgen. Zudem sucht er Unterstützung bei einer russischsprachigen Anwältin. »Sie hat mir dabei geholfen, in einem Brief zu erklären, warum ich gerade hier das Visum haben möchte«, sagt Krasilnikow. Erst sei er sich nicht sicher gewesen, ob seine Umstände ihn für die spezielle Aufenthaltserlaubnis berechtigten. Einige Bekannte würden in deutlich größerer Gefahr schweben.

Während Krasilnikow wartet, läuft seine bisherige Aufenthaltserlaubnis ab. Eine Bescheinigung, dass sein Visumsantrag geprüft wird, erlaubt es ihm, trotzdem zu bleiben. Nach rund einem Vierteljahr erhält der Russe schließlich die Bestätigung eines Künstlervisums für drei Jahre. »Das gibt mir eine gewisse Sicherheit für die nächste Zeit«, sagt Krasilnikow. Das offizielle Dokument, das ihm Ausreisen aus Deutschland ermöglichen würde, hält er nach rund fünf Monaten allerdings noch nicht in den Händen. Der Künstler ist glücklich darüber, bleiben zu können, sehnt sich aber nach der Familie. »Wenn jemand krank werden sollte, steige ich in den Flieger und kehre zurück.« Zugleich sei ihm bewusst: »Je länger ich hier bleibe, umso gefährlicher wird es für mich, wieder nach Russland zu gehen.«

Zahlen dazu, wie viele Russ*innen seit dem 24. Februar 2022 einen Aufenthaltstitel als Freiberufler*innen beantragt haben, liegen dem LEA nicht vor. Unklar bleibt auch, wie stark die Zahl der Anträge insgesamt gestiegen ist. Auf die Frage, ob von deutscher Seite aus mehr für fliehende Russ*innen getan werden müsste, tut sich Krasilnikow schwer: »Es ist eine coole und merkwürdige Sache zu sehen, wie sich dieses Land verhält, um meine Lebenslage zu verbessern.« Sozialhilfe, sagt der Künstler dann, wolle er unter keinen Umständen in Anspruch nehmen. Eher werde er sich in einem vollkommen anderen Beruf versuchen oder komplett nach Russland zurückkehren.

Die Wut der Ukrainer*innen auf Russland kann Krasilnikow verstehen. Viele junge Menschen in Moskau dächten wie er überhaupt nicht so wie Putin und seien gegen den Krieg. »Es gab schon immer zwei Arten Russland«, sagt Krasilnikow. »Das eine hat sich dem Machtapparat verschrieben und reicht vom Präsidenten bis zum kleinen Bediensteten. Das andere versteckt sich und hat oft keine Arbeit.«

*Der Name des Künstlers wurde zum Schutz seiner Familie in Russland geändert.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal