Eine Decke voller Liebe

Anna lebt seit einem Jahr in Berlin. Ihre Heimatstadt in der Ukraine mussten sie wegen des russischen Angriffskrieges verlassen

  • Julia Banholzer
  • Lesedauer: 7 Min.
Anna mit Katze
Anna mit Katze

Sie hatten weniger Gepäck dabei als wir. Es ist so grausam«, erzählt Swantje, die vor genau einem Jahr mit ihrer Familie in den Urlaub fuhr – und für diese Zeit ihre Berliner Wohnung Anna, ihrer Mutter und deren beiden Katzen überließ. Nichts als ein kurzes Telefonat gab es vor diesem Märzmorgen, an dem sich Familie und Geflüchtete an der Türschwelle begegneten; die einen ab in den Süden, die anderen kamen aus dem Osten. »Ist jetzt eben so«, sagt Swantje dazu nur, kein Raum für misstrauisches Abwägen. Es ist nämlich Krieg – auf einen Schlag –, seit der Nacht vom 24. Februar 2022.

In dieser Nacht wurde Anna von den Erschütterungen der ersten Bombeneinschläge in Saporischschja, ihrer Heimatstadt im Südosten der Ukraine, nicht geweckt. Sie hatte schon seit Putins Verkündung des Anschlusses der ukrainischen Volksrepubliken Donezk und Luhansk an Russland, drei Tage zuvor, kaum geschlafen. Als sie aus ihrem Fenster Kampfflugzeuge am Himmel sah, waren ihre Ausweisdokumente bereits in den kleinen Koffer eingepackt, mit dem sie wenige Tage später bei Swantje in Berlin ankommen sollte.

»Innerlich habe ich mich schon für immer von meiner Mutter verabschiedet«, erinnert sich die heute 26-Jährige. Denn im Gegensatz zu ihr war die Entscheidung zu gehen für Annas Mutter nicht selbstverständlich. Gehen, das wäre der unwiderrufliche Bruch mit dem normalen Leben, das sie bisher in Saporijia geführt hatten. Das wäre der endgültige Zusammenbruch der Hoffnung, die Bomber würden ebenso schnell wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht waren.

Nach tagelangen Busreisen kamen jedoch beide, mit je einem Koffer und einer Katze, in der Wohnung einer fremden Frau in Berlin an. Der Kontakt war über mehrere Freundinnen und spontan organisierte Support-Gruppen vermittelt worden. Nicht wegzudenken aus einer langen Kette zahlloser Telefonate und einiger glücklicher Zufälle: Das Leer Studio Berlin, eine junge Galerie in der Uhlandstraße, die ihre geplante Eröffnung im März angesichts des Kriegsbeginns verschob und dank vieler, der Kreativszene eigenen Vernetzungen quer durch Berlin nicht nur bei Wohnungsvermittlungen half, sondern ihre eigenen Räumlichkeiten kurzerhand zu einer Sammelstelle für Spendenartikel umfunktionierte, die wöchentlich an die polnische Grenze gefahren wurden.

»Mir haben so viele wunderbare Menschen geholfen, sie haben mir buchstäblich das Leben gerettet«, erzählt Anna. »Sie haben mir gezeigt, dass ich nicht allein bin. Diese Menschen waren mir das schönste Geschenk.« Sie waren es, ohne die der Bruch in Annas jungem Leben kaum zu bewältigen gewesen wäre. In den letzten Tagen in der Ukraine hatte sie Todesangst; in den ersten Monaten in Berlin beherrschte sie eine kalte Leere – »ein dunkler Film ohne Pausen, auf Wiederholung. Ich verstand die Wirklichkeit nicht, ich konnte mir nicht einmal den morgigen Tag vorstellen.« 

Jetzt lebt sie seit genau einem Jahr in Berlin, und allmählich vergehen die Trauer und die Unruhe. Als ihr mit der Zeit bewusst wurde, dass der Krieg kein schnelles Ende finden und es nicht möglich sein würde, bald nach Hause zurückzureisen, musste sie ihren Verlustschmerz und ihre Hoffnung auf Rückkehr zur Ruhe legen. Erst das Ende dieser Hoffnung markierte den Anfang ihrer wirklichen Ankunft in Berlin. »Man kann nicht ewig trauern – und erst recht nicht an zwei Orten gleichzeitig leben«, sagt sie.

Man sieht ihr an, dass sie den kalten Schwellenraum zwischen ihrer Heimat und ihrem Gastland überwunden hat und jetzt mit beiden Füßen auf Berliner Boden steht. Sie besucht mittlerweile eine Sprachschule – am schnellsten habe sie die Worte »Butterbrot« und »Rucksack« gelernt, die seien auf Russisch nämlich exakt dieselben, erzählt sie lachend – und konnte dank Berlins vielfältiger Kunstszene auch wieder ihrer Leidenschaft für Fotografie nachgehen. Sie habe sich in diese Stadt verliebt, in der sie ihre Identität wiederfinden konnte. Ihr Eigenes, Schutzraum im Außen wie Geborgenheit im Innen, das vor einem Jahr so unwiderruflich zerrissen schien, baut sie sich hier Tag für Tag wieder auf.

Ganz im Gegenteil zu ihrer Freundin Katja*, die wie viele andere junge und gut gebildete Russ*innen in den ersten Wochen nach dem 24. Februar ihr Land verließen, weil sie mit ihrem öffentlichen Bekenntnis gegen den Krieg die Sicherheit ihrer Familien gefährdeten und selbst hohe Gefängnisstrafen riskierten. Durch den russischen Überfall habe sie zwar nicht buchstäblich ihre Heimat verloren – sie kann, anders als viele Ukrainer*innen, jederzeit in ihre eigene Wohnung in St. Petersburg zurückkehren –, aber der Schmerz, statt mit der Zeit zu heilen, wächst mit jeder Nachricht über das, was bei ihr zu Hause als »militärische Spezialoperation« betitelt wird. Ihr Pass erinnere sie jeden Tag daran, dass sie keinen Sehnsuchtsort zum Vermissen mehr hat, sondern eine scheinbar unversöhnliche Kluft zwischen sich und dem, was ihre Identität sein soll: »Das Land, in dem ich mich zum ersten Mal verliebt habe, wirft Bomben über Schulen und Krankenhäusern ab?«

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges haben laut Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissariats rund 18,8 Millionen Ukrainer*innen ihr Zuhause verloren – ein Ausmaß, mit dem nur die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs konkurriert. Anna hatte das große Glück, ein zweites Zuhause zu finden; aber das Gefühl, alles im nächsten Augenblick wieder verlieren zu können, wird sie nie wieder los: »Alles ist so zerbrechlich. Die Menschen vergessen oft, wie schnell alles verschwinden kann. Heute bist du da und morgen schon nicht mehr.« 

Wenn sie das sagt, denkt sie sicher auch an ihren Bruder, der im Land geblieben ist. Aber sie spricht kaum über das, was sie zurückgelassen hat. Nur einmal, während ihre Mutter Borschtsch serviert – eine tiefrote traditionelle Suppe, die gerne mit einem dicken Klecks Smetana (Schmand) gegessen wird –, erzählt sie stolz von der Küche, die sie kurz vor der Invasion noch renoviert hatte, mit eigenen Händen. Darauf hatte sie mehrere Jahre gespart, und das Ergebnis, fügt sie nicht ohne falsche Bescheidenheit hinzu, hätte sich schon sehen lassen können. Aber aus Saporischschja steht auf ihrem Küchentisch heute, in Kreuzberg, nur ein Fotoalbum.

Und dennoch: Wenn Anna jetzt auf das vergangene Jahr zurückblickt, erscheint es ihr mehr als Märchen denn als Horrorfilm. »Es klingt seltsam, aber in diesem Jahr sind viele meiner Träume in Erfüllung gegangen. Zum Beispiel, in der Nähe von Cate Blanchett zu sein«, sagt sie zwinkernd. Ihre Lieblingsschauspielerin ist in diesem Augenblick nur wenige Kilometer entfernt am Potsdamer Platz zur Berlinale gekommen, um ihren Film »Tár« zu präsentieren. 

Die Berliner Clubszene, das laute nächtliche Gewusel, das sie jeden Abend vor ihrer Haustür mitbekommt, ist nichts für Anna; stattdessen hat sie das Arsenal – das Institut für Film- und Videokunst – für sich entdeckt. Sicher, so denkt sie, ist ihr eine ganz andere Begegnung mit Berlin vergönnt als beispielsweise ihren Großeltern, die Deutschland noch unter anderer Flagge kennen.

Seltsame Wendung des Schicksals, dass die Angreifer vor fast 80 Jahren aus dem Westen kamen – und heute aus dem Osten. Auf einem Hügel in der ukrainischen Hauptstadt Kiew steht eine Kolossalstatue zum Gedenken an den Sieg der sowjetischen Streitkräfte gegen die deutsche Wehrmacht, die am 22. Juni 1941 auch die Ukraine im Rahmen ihres sogenannten »Russlandfeldzugs« überfiel. Die 62 Meter hohe »Mutter Heimat«-Statue sollte gen Westen blicken, wurde aber falsch herum errichtet – ein Versehen, über das man bis letztes Jahr noch gelacht hat; ein Versehen, das im heutigen Kontext in gänzlich neuer Bedeutung erscheint.

Wie schnell alles zerbricht – aber mit deinem »kleinen Schneckenhaus«, wie Anna es nennt, brauchst du keine Angst zu haben. Wenn du ein inneres Zuhause gefunden hast, in das du dich zurückziehen kannst, dann verstehst du, dass du noch so viele Wohnungen und Städte verlieren kannst, aber niemand wird deine innere Schutzhülle berühren. »Ein Mensch kann alles überleben, wenn Liebe im Herzen ist«, sagt Anna und bemerkt: Sie ist wohl um mehrere Jahrzehnte gealtert im letzten Jahr. 

Aber die schönsten Momente sind die abends vor dem Schlafengehen, wenn sie sich wieder ganz klein fühlen kann, eingekuschelt in eine warme Decke. Diese Decke hatte ihr eine Freundin von Swantje geschenkt, in deren Weddinger Wohnung Anna und ihre Mutter letztes Jahr für fast neun Monate wohnen durften. »Sie gibt mir das wärmste Gefühl, das es gibt. Eine so kleine Decke, in der so viel Liebe und Fürsorge steckt. Jeden Abend, wenn ich mich darin einkuschele vor dem Schlafen, gibt es nichts Schöneres, als zu wissen, dass irgendein freundlicher Mensch dir einfach so eine gewöhnliche Decke schenken konnte. Aber für dich ist diese kleine Decke die ganze Welt.«

* Name geändert

Anna hat ihre Streifzüge durch Berlin auf diversen Fotos festgehalten. Zeugnisse des Ankommens.
Anna hat ihre Streifzüge durch Berlin auf diversen Fotos festgehalten. Zeugnisse des Ankommens.
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