Mentoring-Projekt »Hürdenspringer«.: Inspirieren und ermutigen

Ceyda und Selin bilden ein Tandem beim Mentoring-Projekt »Hürdenspringer«. Das Programm will benachteiligte Jugendliche beim Übergang von der Schule zum Beruf unterstützen

  • Gloria Reményi
  • Lesedauer: 7 Min.
Ceyda (links) und Selin: Bei ihnen hat es »gematched«. Die beiden sind ein gutes Team.
Ceyda (links) und Selin: Bei ihnen hat es »gematched«. Die beiden sind ein gutes Team.

Eine sonore Stimme hallt durch die Räume des Projekts »Hürdenspringer« in Berlin-Neukölln. »Das ist sie. Ich erkenne das Lachen«, sagt Ceyda bestimmt. Der 15-Jährige sitzt an einem runden Tisch im Gemeinschaftszimmer des Gebäudes am Karl-Marx-Platz. Er hat kurze schwarze Haare und dunkle wache Augen, trägt eine Baggy-Jeans, ein weites schwarzes T-Shirt und darübergeworfen einen weißen Sweater. Vorzeitig angekommen, lässt Ceyda seinen Blick etwas unruhig durch den kahl eingerichteten Raum wandern – bis Selin ein paar Augenblicke später durch die Tür geht: Da scheinen sich Ceydas Gesichtszüge sofort etwas zu entspannen.

Erst drei Monate ist es her, dass Ceyda und Selin sich kennenlernten oder, wie sie selbst sagen, »gematcht« wurden. Die beiden bilden ein Tandem beim Mentoring-Projekt »Hürdenspringer« der Stiftung Union Hilfswerk Berlin. Mentee Ceyda besucht die neunte Klasse einer Integrierten Sekundarschule in Berlin. Hier lebt er auch schon immer mit seinen Eltern und fünf jüngeren Geschwistern. Nach Stationen in München und Amsterdam, wo sie Medien- und Kommunikationswissenschaften studiert hatte, zog Selin Ashaghimina hingegen erst vor anderthalb Jahren nach Berlin, um in der Digitalvermarktung zu arbeiten. Nebenher engagiert sich die 26-Jährige nun ehrenamtlich als Mentorin. Einmal die Woche trifft sich das Tandem, entweder bei »Hürdenspringer« oder bei Ceyda zu Hause.

Initiiert wurde das Schulmentoring-Programm 2009. Kooperationspartner sind die Röntgen-Schule in Neukölln, die Johanna-Eck-Schule in Tempelhof und die Hector-Petersen-Schule in Kreuzberg. »Laut der Berliner Schultypisierung sind das alles Institute mit hohem Bedarf«, erklärt Projektkoordinatorin Philine Busch. Er ergebe sich aus verschiedenen Faktoren: Unter anderem sind ein hoher Anteil an Schüler*innen mit Migrationsgeschichte sowie aus ärmeren und bildungsfernen Haushalten, aber auch Personalmangel und ungenügende Unterstützungsangebote vor Ort Kriterien für »hohe Bedarfe«. »Unsere Zielgruppe bilden also Schüler*innen, die nicht die Unterstützung bekommen, die sie eigentlich brauchen«, bringt es Busch auf den Punkt. Mentoring alleine könne zwar weder Chancengleichheit noch soziale Gerechtigkeit oder Teilhabe herstellen, aber immerhin vielen gesellschaftlich benachteiligten Schüler*innen unter die Arme greifen und als Sprungbrett dienen.

Dabei richtet sich das Projekt spezifisch an Jugendliche ab der neunten Klasse: »Das ist eine schwierige Zeit. Ab da kommt von allen Seiten dieses ›Was machst du danach?‹. Zusätzlich zum Abschluss muss man die eigene Zukunft in die Hand nehmen, während man mitten in der Pubertät steckt«, so Busch. Genau da will das Mentoring ansetzen: nicht als klassischer Nachhilfeunterricht, sondern als Orientierung beim Übergang zwischen Schule und Beruf.

Bei ihrem ersten Treffen verstanden sich Ceyda und Selin direkt gut. »Wir waren beide irgendwie total nervös und haben darüber viel lachen müssen«, erinnert sich Ceyda. »Durch einen Persönlichkeitstest haben wir herausgefunden, dass wir tatsächlich ähnliche Typen sind – extrovertiert und intuitiv«, fügt Selin hinzu. Basierend auf den Testergebnissen erarbeiten die beiden aktuell Berufsprofile, die sich für Ceydas Interessen und Stärken eignen, zum Beispiel Schauspiel. »Das würde wirklich zu mir passen. Denn ich bin eine sehr humorvolle Person, die auch mal sarkastisch unterwegs ist. Weil ich bei Witzen ernst rüberkomme, denken meine Freund*innen oft, dass ich das wirklich auch so meine«, erzählt der 15-Jährige. Selin hatte aber noch eine weitere Idee: Grafikdesign. Denn Ceyda interessiert sich fürs Zeichnen. Schon als kleines Kind begann er, Comics zu malen. »Meine Mutter sagt, dass ich damit irgendwann groß rauskommen werde. Sie steht immer hinter mir«, kommentiert er.

Was seine beruflichen Perspektiven angeht, scheint Ceyda heute zuversichtlich. Dabei hat die berüchtigte Zukunftsfrage ihn bis vor Kurzem noch regelrecht gequält: »Mein Zeugnis war an sich schon voll mit Vieren. Und plötzlich war da diese Frage: Was willst du eigentlich werden?« Sie zu beantworten, schien beinahe unmöglich, denn Berufsorientierung findet kaum im Unterricht statt: »Ich hatte einfach keine Ahnung, was zu mir passt. und bin gar nicht hinterhergekommen – mit Praktikum, Ausbildung, allem. Ich habe mich alleine gefühlt und mir selbst total Druck gemacht.«

Dann stellten Philine Busch und ihre Kolleg*innen das Mentoring-Programm an Ceydas Schule vor. »Die Teilnahme ist freiwillig. Wir gehen also durch die Klassen und wer sich angesprochen fühlt, kommt auf uns zu«, schildert die Koordinatorin. Zuerst war Ceyda etwas skeptisch. »Doch es hat mich inspiriert. Ich glaube, man sagt das so«, erklärt er nachdenklich und fährt nach einer kurzen Pause fort: »Ich habe mir dann gedacht, dass es eine gute Chance ist, um herauszufinden, wer ich bin.«

Während Ceyda von sich erzählt, hört Selin ihm aufmerksam zu und nickt hin und wieder ermutigend. Wie schwierig es ist, den eigenen Weg zu finden, wenn man in benachteiligte Verhältnisse hineingeboren wird, weiß sie aus eigener Erfahrung. »Wenn man beschränkte finanzielle Möglichkeiten hat, muss man oft lange suchen, bis man etwas findet, das einem gefällt und umsetzbar ist«, erklärt sie. Mühsam sammelte sich Selin Brocken an Informationen von etlichen Websites zusammen und erarbeitete sich so selbständig ihren Weg. »Dabei hätte ich mir schon gewünscht, dass mir jemand ein paar Tipps zu Studium und Praktika gibt, vor allem dazu, wie ich mir das alles finanzieren kann«, sagt sie rückblickend.

Woran Selin es als Schülerin vor allem gefehlt habe, sei der Zuspruch gewesen. Ihre Eltern hätten sie zwar immer unterstützt, aber als sie etwa in der Schule von ihrem Traum erzählt habe, in der Medienbranche zu arbeiten, hätten Lehrer*innen und Mitschüler*innen sie einfach ausgelacht. In Selins kleiner Heimatstadt in Bayern war ihre Berufsvorstellung zu weit entfernt von den vermeintlich vorgegebenen Karrierewegen gewesen: eine Ausbildung bei der Bank, eine Zukunft als Lehrerin, ein angesehenes Medizin- oder Jurastudium. Auch war Selin lange die Einzige in ihrer Klasse mit einem sogenannten Migrationshintergrund. »Ich bin schon allein aufgrund meines iranischen Nachnamens angeeckt und mir blieben Möglichkeiten verwehrt«, sagt sie und schlussfolgert ernüchtert: »Wenn einem von Lehrer*innen eine gläserne Decke vorgehalten wird, tut das der eigenen Entwicklung nicht gut.«

Ceyda fühlt sich in der Schule insbesondere von seinem Kunstlehrer bestärkt: »Nicht nur gibt er mir gute Tipps zum Zeichnen, sondern lobt mich auch sehr, denn er merkt, dass ich viel Mühe in meine Arbeit stecke. Das motiviert mich.« Trotzdem nimmt Ceyda sich selbst im Schulkontext als eher zurückhaltend wahr. Er erzählt, dass ein paar Schüler aus seiner alten Klasse ihn beleidigt hätten, nachdem er sich als trans geoutet habe, weshalb er schüchtern und leise geworden sei. Zwar habe er sich einem Lehrer anvertraut, aber wenig Unterstützung erfahren: »Er meinte nur, dass ich es mir nicht zu Herzen nehmen solle, weil an mir nichts Falsches sei. Das hat mich schon ein bisschen ermuntert, aber das war irgendwie nicht genug.«

Der 15-Jährige kennt auch Jugendliche auf seiner Schule, die queer sind, es aber verheimlichen aus Angst, gemobbt zu werden. »Denn die Lehrer*innen machen nicht wirklich was dagegen, wenn jemand beleidigt wird, außer vielleicht die Eltern anzurufen oder zu sagen: ›Hört auf damit!‹ Aber das bringt gar nichts«, sagt er. Ceyda wünscht sich, dass an der Schule mehr über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt gesprochen wird: »So würden die Schüler*innen auch verstehen, dass das etwas Normales ist.« Dass Lehrer*innen das Thema wirklich einbringen würden, bezweifelt er allerdings: »Für die meisten wäre das Zeitverschwendung, weil es nicht zum Unterrichtsfach gehört.«

Laut Philine Busch sind Lehrer*innen zu wenig in Sachen Diskriminierungssensibilität geschult. Da brauche es eine strukturelle Lösung. »Umso wichtiger ist uns bei ›Hürdenspringer‹, einen sicheren Raum für unsere vulnerable Zielgruppe zu schaffen«, betont sie. So gingen die Mentor*innen vor Programmbeginn etwa eine Pflichtqualifizierung durch, in der unter anderem auf unterschiedliche Diskriminierungsformen eingegangen werde.

Beim letzten Treffen mit Selin hat Ceyda eine Präsentation über Gavin Grimm vorbereitet: Der US-amerikanische Aktivist setzt sich für das Recht von trans Personen auf eine freie Toilettenwahl ein, seitdem ihm als trans Junge verweigert wurde, die Jungstoilette auf seiner Schule zu benutzen. Das Thema hat Selin eingebracht: »Vorbilder zu zeigen, die inspirieren und ermutigen, finde ich wichtig. Denn auch das formt Ceydas Selbstbild.« In Grimms Geschichte konnte sich Ceyda tatsächlich wiederfinden. Auch hat er den Eindruck, durch das Mentoring sein Selbstbewusstsein allmählich zurückzugewinnen: »Ich melde mich öfter im Unterricht und rede auch mehr mit anderen. Ich habe gemerkt, dass es nicht an mir liegt, wenn andere etwas gegen mich haben. Gerade lerne ich, dass ich mich in der Schule öffnen und zeigen kann, wer ich bin.«

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