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Nancy Fraser und Peter Sloterdijk: Parasitäre Verflechtungen

Zwei unterschiedliche Sichtweisen auf den Kapitalismus: Nancy Fraser und Peter Sloterdijk

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 6 Min.
Ouroboros ist in der antiken Mythologie eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz verspeist.
Ouroboros ist in der antiken Mythologie eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz verspeist.

Die Geschichte des Kapitalismus dauert inzwischen lang genug, um ergiebig mythisch aufgeladen zu werden. So scheint es jedenfalls, wenn man sich zwei aktuelle philosophische Neuerscheinungen ansieht. Beide am selben Tag im selben Verlag publiziert, machen sich – freilich auf sehr unterschiedliche Weise – sowohl die US-Feministin Nancy Fraser als auch der deutsche Debattenschreck Peter Sloterdijk daran, die Historie der (nicht nur) modernen Wirtschaft und Gesellschaft mytho-poetisch zu verorten.

Fraser zeichnet in ihrem Buch »Der Allesfresser« den Kapitalismus als kannibalisches Monster, das nicht anders kann, als beständig seine eigenen Grundlagen zu verschlingen. Sie vergleicht dieses Ungeheuer mit der antiken Vorstellung des Ouroboros: einer Schlange, die ihren eigenen Schwanz verspeist. Auch sonst spart die New Yorker Professorin nicht mit eigenen sprachlichen Variationen dieses eingängigen Bildes: Der Kapitalismus ist für Fraser ein »nimmersatter Bestrafer«, ein »Care-Verschlinger«, der auch die »Natur im Rachen« hat und nach dem »Ausweiden der Demokratie« einer »institutionalisierten Fressorgie« frönt, »deren Hauptgericht wir selbst sind«.

Frasers weitere Ausführungen sind dann allerdings überraschend klar und stringent. So plädiert sie für einen erweiterten Begriff von Kapitalismus, der diesen nicht nur als Wirtschaftsform versteht, sondern als umfassendes Gesellschaftssystem, in dem die Ökonomie alle anderen sozialen Sphären »kannibalisiert«.

Das bedeutet etwa, dass der Bereich der wirtschaftlichen Produktion, der vordergründig allein für die monetäre Wertschöpfung verantwortlich sein soll, gar nicht denkbar wäre, ohne dass im Hintergrund eine quasi »verborgene Stätte« (Marx) der sozialen Reproduktion am Werk ist, von der die kapitalistische Wirtschaft grundlegend zehrt, ohne sie jedoch (angemessen) zu entlohnen. Da diese reproduktiven, regenerativen Tätigkeiten wie Kindererziehung, Nahrungsversorgung oder Haushaltsführung noch immer überwiegend als unentgeltliche »Liebesdienste« von Frauen für ihre »hart arbeitenden« Männer angesehen werden, ist dies für Fraser ein struktureller Sexismus des kapitalistischen Systems.

Dessen struktureller Rassismus besteht darin, dass dieses Konstrukt der Ausbeutung von entlohnter wie unentlohnter Arbeit nur dadurch überhaupt möglich wird, dass an anderen Orten und zu anderen Zeiten Menschen nicht nur noch stärker ausgebeutet, sondern geradewegs enteignet wurden und werden. Die kapitalistische »Exploitation« beruht also auf »Expropriation«, die historisch betrachtet zwar auch in Europa stattgefunden hat (und auf verschiedene Weise weiterhin stattfindet), etwa in Form der »ursprünglichen Akkumulation« von Gemeinschaftseigentum seit dem 15. Jahrhundert, aber auch noch durch die Privatisierungswelle im späten 20. Jahrhundert. Bis heute war und ist es jedoch vor allem die koloniale wie neokoloniale Enteignung (und Ausbeutung) des Globalen Südens, die die scheinbar »billigen« Rohstoffe, Nahrungsmittel und Konsumartikel produziert, von der die im Vergleich dazu für viele noch einigermaßen erträgliche Ausbeutung im Globalen Norden abhängt.

Diese parasitäre Verflechtung der kapitalistischen Ökonomie mit anderen sozialen Sphären wie geografischen Gebieten hat in der Geschichte immer wieder zu Systemkrisen geführt, die allerdings nie zu einer völligen Selbstkannibalisierung des Kapitalismus geführt haben, sondern stets zu irgendeiner Form von Restabilisierung. Das könnte sich laut Fraser freilich mit der bevorstehenden Klimakrise ändern, die letztlich doch noch dafür sorgen könnte, dass der Allesfresser-Kapitalismus seine eigenen Lebensgrundlagen vollends vernichtet.

Die Klimakrise ist auch der Ausgangspunkt für Peter Sloterdijks mythologische Revisionen in »Die Reue des Prometheus«. Angesichts der heutigen »globalen Brandstiftung« durch die öl- und kohlebetriebenen Industrien der kapitalistischen Moderne besichtigt der emeritierte Karlsruher Hochschulrektor die Ursprünge unserer »pyrotechnischen« Zivilisation. Bestand die menschliche Arbeit laut Marx immer schon in einem »Stoffwechsel mit der Natur«, der in Form von Muskelkraft auf der körperinternen Verbrennung kohlenstoffbasierter Substanzen beruhte, boten die Entdeckung des Feuers wie der Sklaverei schließlich zwei Möglichkeiten, auch externe Energiesysteme anzuzapfen.

Diese jahrtausendelange Beschränkung menschlicher Ausbeutungsverhältnisse auf entweder »humane Biomaschinen« oder überirdisches Brennmaterial wird in der Moderne grundlegend revolutioniert. Mit der Entwicklung der Dampfmaschine und ihrer Nachfolger wird die Menschheit im Öl- und Kohlezeitalter ein »Kollektiv von Brandstiftern, die an die unterirdischen Wälder und Moore Feuer legen«. Der mythische Titan Prometheus, der den darbenden Menschen einst das Feuer brachte, müsste sich heute schämen angesichts des globalen Flächenbrands, zu dem seine »philantropische Feuergabe« geworden ist, so Sloterdijk mit dem Philosophen Günther Anders.

Wenn er nun aber im Anschluss an den Frühsozialismus Saint-Simons gegen einen orthodoxen Marxismus zu belegen versucht, dass die industrielle Pyrotechnik immerhin die »Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« in Richtung einer »Ausbeutung der Erde im Interesse des Menschen« durch den steuerfinanzierten Sozialstaat verschiebe, wird Sloterdijks Text weniger überzeugend. Das bessert sich auch nicht dadurch, dass er sein kaum verhohlenes Ressentiment gegenüber den »Untätigen« der Gesellschaft (zu denen unter anderem »Ehefrauen«, »Kinder und Jugendliche«, »Alte«, »Arbeitslose und Arbeitsscheue« gehören sollen) an Frasers – auf Englisch bereits im vergangenen Jahr erschienenen – Buch zu profilieren versucht.

Zitat: »Nancy Fraser unternimmt in ihrem Essay ›Der Allesfresser‹ (…) den bemerkenswerten Versuch, die historischen Befunde auf den Kopf zu stellen, indem sie die Mitversorgung der Unproduktiven (Fraser würde sagen: der ›Reproduktiven‹ ; T. W.) durch das moderne Produktionssystem in deren Ausbeutung durch einen Cannibal Capitalism umdeutet. In Wahrheit sind weite Teile der Fortpflanzungs-, Erziehungs- und Pflegearbeiten längst an den fiskalischen Umverteilungsprozeß angeschlossen, so daß von einer Ausbeutung unsichtbarer innergesellschaftlicher Voraussetzungen des Systems kaum noch die Rede sein kann – bei fortgehender Ausbeutung der Naturquellen.«

Dabei übersieht Sloterdijk, dass dieser mit eiserner Hand gedeckelte »Umverteilungsprozess«, den er zur Grundlage einer dekadenten Luxusexistenz stilisiert, in erster Linie der Aufrechterhaltung eines Konsumzusammenhangs dient, den der selbst tatsächlich relativ luxuriös alimentierte Professor zwar mit allen rhetorischen Mitteln konservativer Kulturkritik zu diskreditieren versucht – ohne dabei aber zu erwähnen, dass jener Konsum seinerseits einen entgegengesetzten Umverteilungsprozess in Gang hält. In diesem können etwa Lebensmittel-, Wohnungs- oder Energiekonzerne noch am transferfinanzierten Existenzminimum der Ärmsten ihre Profite aufpolstern, die ihre Eigentümer verlässlich zu den reichsten Individuen machen und die gesellschaftliche Ungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten enorm vergrößert haben.

Vor diesem Hintergrund sind dann auch Sloterdijks Vorschläge zur Eindämmung des allgemeinen »Wohlstandsfeuers« zu bewerten: »Askesebereitschaft«, »Beschränkung« und »Verzicht« muss man sich eben erst mal leisten können. Aber auch der »energetische Pazifismus« von »mikrobischen Farmbetrieben« oder »neuartigen Rekuperationsmechanismen« kinetischer Energie beim Marathonlaufen und Treppensteigen ist wohl eher eine Schreibtischfantasie. Die Hoffnung schließlich auf eine »Helvetisierung des Planeten«, also gewissermaßen eine globale »Verschweizerung«, sowie auf eine weltweite »freiwillige Feuer-Wehr« offenbaren den elitären Geist dieser Einlassungen. Da hilft auch der Hinweis auf Bruno Latours Idee einer »ökologischen Klasse« wenig, um vom eigenen reaktionären Klassenkampfrevisionismus abzulenken.

Leider ist aber auch Nancy Frasers Alternative zur Apokalypse noch nicht ganz ausgereift. Zwar skizziert sie einen erweiterten Sozialismus, der in Abgrenzung zu wirtschaftszentrierten »real existierenden« Modellen stattdessen ähnlich umfassend und radikal intersektional zu denken sein soll wie der von ihr beschriebene Kapitalismus. Wie aber eine solche »Gegenhegemonie« tatsächlich ins Werk und am Ende auch dahin kommen soll, dem Allesfresser die entsprechenden Maulkörbe anzulegen, bleibt eine große offene Frage.

Es ist aber zumindest ein wichtiger erster Schritt, die Aufgabe adäquat zu umreißen und das Monster als solches zu benennen, anstatt im pyro-professoralen Elfenbeinturm auf die Reue der herrschenden Klassen zu hoffen.

Nancy Fraser: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Übers. a. d. Amerik. v. Andreas Wirthensohn. Suhrkamp, 282 S., geb., 20 €.
Peter Sloterdijk: Die Reue des Prometheus. Von der Gabe des Feuers zur globalen Brandstiftung. Suhrkamp, 80 S., br., 12 €. Als Hörbuch bei CC-live.

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